Schauspielerinnen demonstrierten vergangenen März für die Freiheit von Kunst. Durch die aktuellen kurzfristigen Kündigungen musste an einigen Bühnen das Programm geändert oder abgesagt werden.

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Für viele Schauspieler, Bühnenarbeiter und anderes Personal an den türkischen Staatsbühnen begann das Jahr mit einem Paukenschlag. Sie erhielten sogenannte "gelbe Umschläge", mittels deren ihnen ihre fristlose Kündigung mitgeteilt wurde. Einigen bekamen die Umschläge nur Stunden vor einer Aufführung. In der südtürkischen Metropole Adana traf es sogar den Hauptdarsteller des Abends. Das Stück "Die Schöne von Miletos" musste daraufhin abgesagt werden. Auch andere Vorstellungen mussten verschoben oder abgesagt werden.

Nach Angaben der Gewerkschaft Kültür Sanat Sen (Kunst und Kultur) wurden bislang insgesamt 90 Mitarbeiter der Staatstheater und 57 Mitarbeiter der staatlichen Opern entlassen. Nach Presseberichten von Ende letzter Woche kann sich die Zahl noch bis auf 300 erhöhen.

Deniz Özsaygi, Sprecherin der Gewerkschaft, sagte, nach ihren Informationen standen die jetzt gefeuerten Mitarbeiter auf einer schwarzen Liste, die die Generaldirektion der Staatstheater und der staatlichen Opern vom Kulturministerium bekommen hatte. Manchen sei mitgeteilt worden, sie hätten eine "Sicherheitsüberprüfung" nicht bestanden.

Anfrage an das Kulturministerium

Die Gewerkschaft und Vertreter der Opposition vermuten, dass es sich bei den Entlassungen um eine Säuberungsaktion gegen politisch missliebige Mitarbeiter handelt. Man habe, auch anhand der Social-Media-Aktivitäten der Betreffenden, überprüft: "Ist er/sie für uns oder gegen uns", vermutet Özsaygi. Alpay Antmen von der CHP hat im Parlament eine Anfrage an das Kulturministerium gestellt, ob Aktivitäten in den sozialen Medien ein Grund für die Entlassungen waren. Die Generaldirektion der staatlichen Bühnen gab eine schriftliche Erklärung ab, in der sie sich gegen die Vorwürfe verwahrte. Bei den betroffenen Mitarbeitern seien die Verträge zur Jahresfrist ausgelaufen. Für eine Verlängerung der Verträge müssten die Mitarbeiter Bedingungen erfüllen, die bei einigen nicht mehr gegeben gewesen wären.

In der Türkei gibt es landesweit 40 staatliche Bühnen, allein 17 davon in Istanbul und Ankara. Die prominenteste staatliche Bühne und die Oper liegen allerdings schon länger brach. Sie gehörten zum Atatürk-Kulturzentrum am Taksim-Platz in Istanbul. Dieses Kulturzentrum stand beispielhaft für den Konflikt zwischen der AKP-Regierung und den staatlichen Bühnen, die allesamt in der Republikzeit der Türkei gegründet wurden und zur kulturellen Annäherung des Landes an Europa beitragen sollten. Sie waren der islamischen AKP deshalb von Beginn ihrer Regierung 2003 an ein Dorn im Auge.

Das Atatürk-Kulturzentrum wurde bereits 2008 wegen angeblicher baulicher Mängel stillgelegt und im Mai 2018 abgerissen. Präsident Tayyip Erdoğan lässt nun an gleicher Stelle ein neues großes Kulturzentrum bauen, über dessen spätere inhaltliche Ausrichtung aber noch nichts bekannt ist. Bekannt ist dagegen, dass der bis vor kurzem amtierende Generaldirektor der staatlichen Bühnen, Nejat Birecik, schon vor einiger Zeit verkündet hatte: "Wir öffnen unsere Bühnen nur noch für türkische Stücke, die das Heimatgefühl stärken."

"Nur ein Diktator"

Freie Theater, die die ideologischen Vorgaben der AKP-Kulturpolitik missachten, müssen dagegen mit Repressalien rechnen. Letztes Jahr wurde die Aufführung eines Stückes mit Polizeigewalt verhindert, weil der Titel "Nur ein Diktator" unbotmäßige Kritik befürchten ließ. Einer der prominentesten Schauspieler und Regisseure, Mehmet Ali Alabora, wird im Gezi-Prozess mit weiteren 15 Personen angeklagt und mit lebenslanger Haft bedroht, weil er 2012 ein Theaterstück über einen Volksaufstand inszeniert hatte, das angeblich die Gezi-Proteste inspiriert haben soll. Alabora flüchtete nach London.

Viele Aktivisten der freien Theater haben die Mitarbeiter an den staatlichen Bühnen seit langem kritisiert, weil sie sich nicht gegen die inhaltliche Vereinnahmung durch die Regierung gewehrt haben. So veröffentliche der Verein der Kulturschaffenden der Theater (DETIS) folgende Erklärung: "Nach den gelben Umschlägen tragen die Staatstheater Trauer. Dieses dunkle Ende haben die Staatstheater sich mit ihrem Schweigen selbst zuzuschreiben." (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 13.1.2020)