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Brexit, Klimakatastrophe, Flüchtlingsströme und Abschottungstendenzen: Viel näher könnte ein Roman nicht am Puls der Zeit sein. Und doch käut der britische Autor John Lanchester nicht einfach das aktuelle Nachrichtengeschehen wieder, sondern extrapoliert es zu einem ebenso eindringlichen wie ausweglos erscheinenden Zukunftsszenario. Wäre der Titel nicht schon an H. G. Wells vergeben, könnten am Cover von "Die Mauer" ("The Wall") auch die Worte "Things to Come" prangen.

Das Szenario

Lanchester ist kein SF-Autor im engeren Sinne. Seien wir also nicht überrascht, wenn er den Worldbuilding-Faktor niedrig hält und seiner Erzählung damit diesen Hauch von Abstraktion gibt, wie wir ihn aus Büchern wie beispielsweise Cormac McCarthys "Die Straße" oder Kazuo Ishiguros "Alles, was wir geben mussten" kennen. So wird auch nicht der Name des Inselstaats genannt, der sich hier hinter einer 10.000 Kilometer langen und fünf Meter hohen Betonmauer entlang seiner Küstenlinien verschanzt hat. Der Kontext macht klar, dass es Großbritannien ist (was spätestens durch die Nennung der Ortschaft Ilfracombe bestätigt wird).

Diese Mauer ist die letzte Verteidigungslinie gegen den Ansturm derer, die der gestiegene Meeresspiegel aus ihren Heimatländern vertrieben hat. Woher genau sie jeweils kommen, spielt keine Rolle – sie alle sind schlicht die Anderen. Schiffe und Flugzeuge, die sich der Insel nähern, werden versenkt, und wer es dennoch bis zur Mauer schafft, den erwarten die Gewehre der Verteidiger.

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Kategorien von Menschen

An dieser Stelle eine Anmerkung: Ich habe das Buch im Original gelesen. Im Englischen kommt durch die Großschreibung von Wörtern wie Others oder Defenders noch deutlicher hervor, dass hier in Kategorien gedacht wird – ein Ausdruck der Entmenschlichung. Die Übertragung ins Deutsche funktioniert immer dort am besten, wo Lanchesters schlichte, stets auf den Kern reduzierte Sprache 1:1 übersetzt werden konnte.

Weniger geglückt ist das Kunstwort Fortpflanzler (angewandt auf die Minderheit von Menschen, die noch Kinder in diese grimmige Welt setzen wollen) – Breeders ist im Englischen halt ein seit langem etablierter Begriff für Heterosexuelle mit Nachwuchs. Und Dienstlinge ist ein unnötig kompliziertes Wort für die De-facto-Sklaven, die im Original so schlicht wie unpersönlich als the Help bezeichnet werden.

Außer Hauptfigur Joseph Kavanagh und seiner Kameradin Hifa tragen auch nur wenige Romanfiguren Namen; meistens beschränkt sich Lanchester auf Funktionsbezeichnungen wie der Hauptmann oder der Korporal. Vollendet wird die Entpersönlichung, die "Die Mauer" prägt, dadurch, dass die Figuren geradezu mathematischen Mustern unterworfen werden: Sei es der Schichtwechsel auf der Mauer, sei es das Gesetz, dass für jeden Anderen, der es über die Mauer schafft, ein Verteidiger im Meer ausgesetzt wird. Hier ist tatsächlich jeder nur noch eine Nummer.

Erstarrt

You train yourself not to look at the time, because it is never, ever, ever as late as you think and hope and long for it to be. You learn to float. You become completely passive; you let the day pass through you, you stop trying to pass through it. Teil 1 des Romans ist der grauen Routine des Wachdienstes und Kavanaghs Meditationen über die – metaphorische wie tatsächliche – Kälte auf der Mauer gewidmet.

Zugleich ist Routine aber die einzige Hoffnung der Verteidiger. Denn jede Veränderung kann nur eine Veränderung zum Schlechten sein, wie uns die urplötzlich hereinbrechende Gewaltexplosion in Teil 2 verdeutlicht. Wie in adrenalingetränkter Zeitlupe werden wir durch die Augen Kavanaghs mitverfolgen, was dann geschieht. Und ja, wir werden auch noch einen Blick auf diejenigen werfen, die außerhalb der Mauer sind.

Auf Äquidistanz

Lanchesters Roman zeichnet aus, dass er sich von keinem Lager der gegenwärtigen Migrationsdebatten so recht vereinnahmen ließe. Er zeigt Verständnis für diejenigen, die ihre untergegangene Heimat verlassen mussten, aber auch für die, die verhindern wollen, dass auch ihr Staat noch zusammenbricht. Bei den Anderen lernen wir Menschen, die sich einfach nur irgendwo eine Überlebensgemeinschaft aufbauen wollen, ebenso kennen wie mörderische Banditen. Und auch in den Reihen der Verteidiger sind positiv und negativ besetzte Figuren vertreten (samt sämtlicher Grauschattierungen dazwischen).

Ein auffallendes Detail auch: Das rigide Großbritannien der Zukunft zeigt keinerlei sexistische oder rassistische Tendenzen. Jeder wird gleichbehandelt, solange er nur einen Bürger-Chip im Leib trägt. Wer drin ist, ist drin – eine ebenso klare wie kalte Gleichung.

Lanchester ergreift nicht Partei und unterstreicht damit nur noch umso stärker, auf welche Zukunft die Welt aktuell zusteuert. Nüchtern konstatiert er anhand eines Generationenkonflikts zwischen den Alten, die die Welt vor die Hunde gehen lassen haben, und ihren Kindern, die deshalb jahrelang Dienst auf der Mauer schieben müssen, wohin die Reise geht, wenn wir nicht schleunigst eine Vollbremsung hinlegen. "Die Mauer" beschwört das vielleicht auswegloseste Szenario seit Stephen Baxters "Die Flut" herauf, und das will etwas heißen. Beeindruckend!