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Ein Kind mit Maschinengewehr, geladen mit Wachsmalstiften, auf den Punkt gebracht von Graffiti-Künstler Banksy. Weniger Verbote und Tabus wünscht sich Politikwissenschafter Markus Pausch, um Radikalisierung unter Jugendlichen zu vermeiden.
Foto: GABRIEL BOUYS / AFP / picturedesk.com

Vor fünf Jahren, am 7. Jänner 2015, wurde die Redaktion der französischen Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" Opfer eines islamistisch motivierten Terroranschlags, zwölf Menschen starben. Im November 2015 forderten Attentate in Paris 130 Tote, 2016 tötete in Nizza ein islamistischer Attentäter 86 Menschen.

Im Schatten dieser Ereignisse startete die Universität von Toulouse eine internationale Initiative, um den Wurzeln von Radikalisierung auf den Grund zu gehen. Welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und welche ganz persönlichen Lebensumstände führen dazu, extremistische Ansichten zu entwickeln? Wie lassen sich antidemokratische Tendenzen, etwa in sozialen Medien, aufspüren? Und was braucht es in der Praxis, um Radikalisierung und Extremismus – egal mit welchem ideologischen oder religiösen Hintergrund – erst gar nicht aufkommen zu lassen, speziell unter Jugendlichen?

Mutter Teresa und Lancelot

Diese Fragen versucht das noch bis April laufende und von der EU geförderte Projekt "Practicies" (Partnership against violent radicalisation in cities) zu beantworten. Beteiligt sind 23 Institutionen und Universitäten aus acht Ländern, ein großer Teil davon aus Frankreich und Belgien. Mit an Bord ist etwa mit Dounia Bouzar die französische Expertin für Deradikalisierung schlechthin – sie arbeitet seit vielen Jahren mit islamistischen Extremisten und Aussteigern. Aus einer Studie mit mehreren Hundert Personen erarbeitete Bouzar eine Art Werkzeugkasten zur Identifizierung von verschiedenen Radikalisierungstypen und ihrer individuellen Beweggründe, vom Typus "Mutter Teresa", der nur die Welt besser machen will, über "Lancelot", der heroisch die Schwächsten schützen will, bis zur "Sleeping Beauty", die selbst auf der Suche nach einem starken Beschützer ist.

Österreich ist mit der FH Salzburg und der Stadt Salzburg vertreten und gemeinsam mit Organisationen aus Nizza, Toulouse und tunesischen Städten für den Bereich der Frühprävention zuständig. "Die Ausgangslage war sehr unterschiedlich", schildert Markus Pausch, Politikwissenschafter und Demokratieforscher an der FH Salzburg. "In Nizza stand infolge des traumatischen Terroranschlags zunächst die Hinterbliebenenarbeit im Vordergrund, in Toulouse gab es ein großes Problem mit Foreign Fightern, die nach Syrien gingen. In Salzburg hingegen gibt es Erfahrungen mit rechtsextremistischen Vorfällen, wenn auch eher mit Vandalismus als mit Angriffen gegen Leib und Leben."

Lokalpolitik gestalten

Im Projektteil namens "Citizens Agora" analysierten die Wissenschafter zehn bestehende beziehungsweise neu gestartete Initiativen, in denen es darum ging, Radikalisierung von vornherein auszubremsen, indem Menschen die Erfahrung machen können, ihr Umfeld zu gestalten – also Demokratie zu leben. "Extremismus hat mit politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen zu tun", sagt Pausch. "Man muss in der Mitte der Gesellschaft beginnen, um durch Demokratieerfahrungen die Grundlagen dafür zu schaffen, dass die Wahrscheinlichkeit für Radikalisierung sinkt."

In Toulouse etwa wurde ein Jugendrat installiert, in dem Jugendliche bewusst aus bildungsfernen Familien eingebunden wurden, die ein Jahr lang Lokalpolitik diskutierten und Vorschläge erarbeiteten. In Nizza wurden unter anderem Workshops abgehalten, um gemeinsam mit marginalisierten Jugendlichen Geschlechterstereotype bewusst zu machen, das Selbstbild zu stärken und kritisches Denken gegenüber extremistischer Propaganda zu entwickeln.

Sichere Räume

In Salzburg wurden drei Maßnahmen untersucht: In der Kampagne "88 gegen Rechts" sprachen sich junge Influencer und Youtuber in einem Video gegen Rechtsextremismus aus. Im Projekt "Streusalz" bringen mobile Sozial- und Jugendarbeiter Jugendliche mit unterschiedlichstem Hintergrund mit Sport- und Freizeitangeboten zusammen, bauen Vertrauen auf und bieten ein Sprachrohr.

"Das beugt Diskriminierung und Alltagsrassismus vor und hilft Ausgrenzung entgegenzuwirken – ein essenzieller Faktor, um Radikalisierungstendenzen entgegenzuwirken, wie die Forschung einhellig zeigt", sagt Heiko Berner, Fachbereichsleiter für Soziale Arbeit und Innovation an der FH Salzburg, der gemeinsam mit Markus Pausch und Nedžad Moćević Teil des Salzburger Practicies-Teams ist.

Als dritte Testmaßnahme wurde der Workshop "ComEx – Comedy und Extremismus" abgehalten. "Es ging darum, in einem sicheren Raum und mit den Mitteln des Humors spielerisch und möglichst offen über seine eigene Haltung, Klischees und Formen des Extremismus zu reden", schildert Berner. Die Beobachtungen bestätigten, dass ein Ort, wo Jugendliche ihre Positionen darlegen können, das demokratische Bewusstsein fördert, so Berner.

"Demokratische Prinzipien sind zwar staatspolitisch verankert, werden aber im Alltag oft nicht erfüllt", ergänzt Markus Pausch. "Revolte und Rebellion werden in der Schule und anderen Institutionen viel zu schnell sanktioniert." Dazu komme die zunehmende Infragestellung demokratischer Grundprinzipien durch rechte Parteien und Bewegungen sowie die Verbreitung von Narrativen und Mythen, die kaum mehr von Fakten unterschieden werden – Stichwort Fake-News.

Negative Weltsicht

Diskriminierung, Perspektivlosigkeit und das Gefühl, nicht an der Gesellschaft teilhaben zu können, sind Schlüsselfaktoren für die Entwicklung einer negativen Weltsicht und in der Folge Gewaltbereitschaft. Das war auch ein deutliches Ergebnis einer im Practicies-Projekt durchgeführten Umfrage unter 12.000 Jugendlichen und Erwachsenen aus zwölf europäischen Ländern. In der 2018 durchgeführten Befragung wurde auch erhoben, wie Jugendliche Radikalisierungstendenzen wahrnehmen. Dabei gaben 47 Prozent der 14- bis 24-Jährigen an, dass sie gewaltsame Radikalisierung in ihrem Land für weit verbreitet halten. 42 Prozent gingen davon aus, dass sich das Phänomen in den nächsten Jahren verstärken werde.

Neben dem Thema Frühprävention wurden in dem Großprojekt noch weitere Aspekte erforscht, etwa welche Sprachbilder Terrorgruppen verwenden, um Jugendliche zu rekrutieren. Das Ziel, mithilfe von Algorithmen Internet und Darknet auf bestimmte Keywords hin zu durchforsten, sieht Pausch allerdings sehr skeptisch:_"Ein solcher Kontrollansatz ist sehr sensibel."

Doch was tun, wenn man mit extremistischen Ansichten konfrontiert ist? "Nicht verharmlosen, die Aussagen nicht stehenlassen und für den Beginn einer Diskussion nutzen. Es muss auch möglich sein, Grenzen zu überschreiten und Tabus zu brechen, nur so kann man Demokratieerfahrungen machen." Die Wünsche der Forscher an die neue Regierung lauten daher:_"Weniger Verbote, dafür mehr Dialog und Räume, in denen Konflikte konstruktiv ausgetragen werden können." (Karin Krichmayr, 20.1.2020)