1997 wurde Simon Wiesenthal über Tage hinweg in seinem Büro interviewt, womit ein außergewöhnliches Filmdokument entstanden ist. Ebenfalls in seinem Büro wurde 2000 dieses Foto von ihm aufgenommen.
Foto: Matthias Cremer

Ein alter Mann erzählt seine Geschichte: Der 89-jährige Simon Wiesenthal sitzt in seinem Büro und gibt ein langes Interview. Elf Stunden bleibt die Kamera auf ihn fokussiert, nur selten wird der Erzählfluss durch Fragen aus dem Off und den halbstündlichen Wechsel der Videobänder unterbrochen. Die stete Kameraeinstellung lässt noch die nuancierteste Gefühlsregung spürbar werden, der Zuschauer kommt Wiesenthal sehr nahe: Mal beantwortet er nüchtern Fragen zu Lebensdaten, mal sieht er ungeduldig auf die Uhr, mal zeigt er sich zu Tränen gerührt von Kindheitserinnerungen.

Das einmalige Filmdokument wird gegenwärtig in voller Länge und bei freiem Eintritt gezeigt: Das Wiener Wiesenthal-Institut für Holocaust-Studien (VWI) veranstaltet zusammen mit dem Österreichischen Filmmuseum eine Reihe, bei der noch an den fünf kommenden Sonntagen je eineinhalb bis zwei Stunden des Materials gezeigt und im Anschluss mit prominenten Gästen aus Wissenschaft, Kultur und Politik diskutiert werden. Unter anderen werden Altbundeskanzler Franz Vranitzky und IKG-Ehrenpräsident Ariel Muzicant erwartet.

Die Reihe steht unter dem Titel "Ich bin einer der 500 von 150.000" – einer Aussage Wiesenthals, die sich darauf bezieht, einer der nur wenigen Überlebenden des nahezu vollständig ermordeten Judentums in Lemberg zu sein, wo er vor dem Krieg gelebt hatte. Wiesenthal blieb 1941 nur durch Zufall von einer Massenexekution kurz nach Besetzung der Stadt durch nationalsozialistische Truppen verschont, er überlebte in der Folge das Lemberger Ghetto und mehrere Arbeits- und Konzentrationslager, bis er 1945 von der US-Armee aus dem KZ Mauthausen befreit wurde.

Gemäß dem Credo "Recht, nicht Rache" deckte Simon Wiesenthal zahlreiche NS-Täter auf.
Foto: Matthias Cremer

Beharrlicher Forscher

Nach dem Krieg wird er als beharrlicher und streitbarer Forscher bekannt, der nationalsozialistische Verbrecher zur Verantwortung zieht. Er beginnt noch 1945, Beweismaterial zu sammeln, arbeitet zunächst mit den Amerikanern zusammen, gründet aber schon 1947 eine eigene jüdische Dokumentationsstelle in Linz und später in Wien.

Gemäß dem Credo "Recht, nicht Rache" deckte er zahlreiche Täter auf – und musste oft erleben, dass die Verfahren im von alten Seilschaften geprägten Staat im Sand verliefen. So wurde 1964 in Wien das Verfahren gegen Karl Silberbauer eingestellt, der 1944 in Amsterdam Anne Frank und ihre Familie verhaftet hatte, wie Wiesenthal herausfand. Der ebenfalls auf sein Betreiben vor Gericht gestellte Franz Murer, der "Schlächter von Vilnius", wurde 1963 in Graz gar freigesprochen.

Das nun gezeigte Oral-History-Dokument entstand im November 1997. Albert Lichtblau, Historiker an der Universität Salzburg und Gast bei der Auftaktveranstaltung am 12. Jänner, interviewte Wiesenthal damals über fünf Tage hinweg in Wien zu seinen Erinnerungen an den Holocaust und seinem Leben vor wie nach dem Krieg. Lichtblau arbeitete im Auftrag der Shoah Foundation an der University of Southern California im Rahmen eines von Hollywood-Regisseur Steven Spielberg vorangetriebenen Projekts, in dem die Erinnerungen von über 50.000 Zeitzeugen des Holocaust in Bild und Ton festgehalten wurden.

In diesem Rahmen wurde Wiesenthal also nicht als Experte interviewt, sondern als Zeitzeuge, der sein persönliches Schicksal erzählt. "Wir lernen Wiesenthal hier als vielschichtigen Menschen kennen", sagt Philipp Rohrbach, wissenschaftlicher Mitarbeiter am VWI, der die Veranstaltungsreihe mitkonzipiert hat. Die Fakten der Geschichte würden durch die persönliche Erzählung fühlbar: "Der Film liefert wichtige Ansatzpunkte dafür, wie Wiesenthal zu dem wurde, der er später war."

Eine weitere Aufnahme von Simon Wiesenthal in seinem Büro im Jahr 2000.
Foto: Matthias Cremer

Schublade als Schlitten

Das Interview folgt einer chronologischen Ordnung. In den beiden Stunden, die bei der Auftaktveranstaltung gezeigt wurden, erzählt Wiesenthal von seinen Erinnerungen als Kind und junger Mann. Fröhlich ergriffen schildert er Bilder, die sich seinem Gedächtnis eingeprägt haben – etwa wie er als junger Bub einer Kommode in der elterlichen Wohnung eine Schublade entwendete, um damit im Schnee Schlitten zu fahren. Die Eltern waren über das ruinierte Möbel nicht begeistert und versohlten ihm den Hintern.

Wiesenthal wurde 1908 in Buczacz in Ostgalizien geboren – einer Region, die mit den Kriegen bald zwischen Österreich-Ungarn, der Ukraine, Polen, der Sowjetunion und dem nationalsozialistischen Deutschland die Staaten und Besatzungstruppen wechselte. So erzählt Wiesenthal im Film vom frühen Verlust des Vaters und der Flucht vor den zaristischen Truppen nach Wien während des Ersten Weltkriegs, wo die Familie in ärmlichen Verhältnissen in einer Flüchtlingsunterkunft lebt. Nach Kriegsende und der Rückkehr nach Buczacz überlebt er während des polnisch-sowjetischen Krieges (1919–1921) nur knapp ein Pogrom, bei dem er von einem Kosaken verletzt wird. Wiesenthal studierte später Architektur in Prag, heiratet 1936 Cyla Müller, mit der er zusammen die Schule besucht hat, und lässt sich in Lemberg nieder.

Erinnerungspolitik

Bei den nächsten Veranstaltungen werden Wiesenthals Erinnerungen an den Holocaust im Mittelpunkt stehen, die einen Großteil des Interviews ausmachen. Es umfasst aber auch die Zeit nach dem Krieg bis zur damaligen Gegenwart von 1997.

Wiesenthal starb 2005 in Wien. Ist sein Vermächtnis heute noch relevant? Für den Historiker Béla Rásky, Geschäftsführer des VWI, ist Wiesenthal auch für die heutige Zeit noch beispielgebend: "Er forderte mit Standhaftigkeit und Beharrlichkeit ein, dass sich dieses Land der verbrecherischen Vergangenheit seiner Bürgerinnen und Bürger stellt, und das gegen den Widerstand breiter Teile der damaligen Gesellschaft. Das mahnt uns, Antisemitismus, aber auch allen anderen Formen von Rassismus und Xenophobie heute sofort und entschieden entgegenzutreten."

Mit der Filmvorführung wolle man ihm die Reverenz erweisen, sagt Rásky, gebühre ihm doch ein Platz als einer der Gründergestalten des modernen Österreich. Wiesenthal habe maßgeblich den Weg dafür gebahnt, "dass diese Republik viel offener mit ihrer Vergangenheit umgeht und durch eine aktive Erinnerungspolitik versucht, ein Bewusstsein für vergangenes Unrecht zu erhalten". (Miguel de la Riva, 16.1.2020)