Im Gastkommentar tritt Nicolas Schmit, EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte, dafür ein, dass Europa in den Arbeitsmärkten der Zukunft höchste Standards setzt.

Der Klimawandel, die Zerstörung unserer Umwelt und die technologische Entwicklung haben in den letzten Jahren zu einer beispiellosen Reaktion der internationalen Gemeinschaft geführt. Dennoch bleibt viel zu tun. Mit der zunehmenden Ökologisierung und Digitalisierung der Industrie wird sich das Arbeitsleben von Millionen Europäern verändern. Auch die Alterung der Bevölkerung und die steigende Lebenserwartung stellen unsere Gesundheits- und Sozialschutzsysteme vor neue Herausforderungen.

Die derzeitigen sozialpolitischen Indikatoren sind positiv: Die Arbeitslosenzahlen liegen auf dem niedrigsten Stand, der jemals in der EU verzeichnet wurde, und sieben Millionen Menschen wurden in den letzten zehn Jahren aus Armut und sozialer Ausgrenzung geführt. Dennoch bestehen nach wie vor Ungleichheiten, und viele Menschen kommen immer noch nur schwerlich über die Runden. Nicht alle Kinder und Jugendlichen haben Zugang zu hochwertiger Bildung oder Gesundheitsversorgung. Frauen sind am Arbeitsplatz immer noch unterrepräsentiert und ihre beruflichen Laufbahnen sind viel stärker fragmentiert. Auch sind wir nach wie vor weit davon entfernt, das geschlechtsspezifische Lohngefälle zu nivellieren – in Österreich liegt es bei 20 Prozent und damit über dem EU-Durchschnitt.

Ziel: Klimaneutraler Kontinent

Mit dem europäischen Grünen Deal von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat Europa es sich zum Ziel gesetzt, bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent zu werden. Der Wandel wird neue Geschäftsmöglichkeiten eröffnen, aber auch dazu führen, dass wir unsere Produktionsmuster, Konsumgewohnheiten, unsere Art der Fortbewegung und unsere Ernährungsgewohnheiten ändern müssen. Das bedeutet, dass innovative und wettbewerbsfähige neue Industrien, neue Erwerbsmöglichkeiten und neue Fachkompetenzen entwickelt werden müssen.

Gleichzeitig führt das Aufkommen von künstlicher Intelligenz und Robotik dazu, dass sich viele Berufsbilder verändern und manche sogar verschwinden werden. Die Arbeit auf Plattformen und die Gig-Economy führen bereits in vielen Geschäftsmodellen zu Disruptionen. Der Sozialschutz in der neuen Arbeitswelt muss eine Garantie auch und insbesondere für diejenigen bieten, die in prekären Arbeitsverhältnissen stehen.

Der Mensch im Mittelpunkt

Es sind Maßnahmen auf EU- und nationaler Ebene erforderlich, damit sich unsere künftigen Arbeitskräfte weiterentwickeln können. Wir müssen sicherstellen, dass alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der EU in der Lage sind, Chancen zu nutzen und die mit den Umstellungen verbundenen Herausforderungen zu bewältigen. Bei der innovativen und inklusiven sozialen Marktwirtschaft der Zukunft muss der Mensch im Mittelpunkt stehen: Es muss darum gehen, den Menschen hochwertige Arbeitsplätze mit angemessenem Lohn zu bieten. Die Frage des Zugangs zu Umschulungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten wird dabei ganz entscheidend sein. Kein Bürger, keine Region und kein Land darf in unserer Union abgehängt werden.

Die neue Europäische Kommission hat bereits Bereiche ermittelt, in denen Maßnahmen auf EU-Ebene unverzichtbar sind. Diese allein reichen jedoch nicht aus. Mit der Proklamation der europäischen Säule sozialer Rechte im November 2017 verpflichteten sich die europäischen Institutionen und die Staats- und Regierungschefs der EU dazu, die Gerechtigkeit in den Mittelpunkt des täglichen Lebens zu stellen. Dieses Bündel aus 20 Rechten und Grundsätzen fördert Chancengleichheit und Arbeitsplätze für alle, faire Arbeitsbedingungen sowie Sozialschutz und soziale Inklusion in all unseren Politikbereichen. Jetzt ist es an der Zeit, den Worten Taten folgen zu lassen. Die Europäische Kommission hat kürzlich eine Debatte mit allen EU-Ländern, Regionen und Sozialpartnern angestoßen und alle Interessenträger aufgefordert, ihren Standpunkt zum weiteren Vorgehen darzulegen und zu einer gemeinsamen Vision der Werte der EU-Säule zu gelangen. Die Ergebnisse dieser Debatte werden in den Aktionsplan zur Umsetzung der Säule einfließen.

Höchste Standards

Wir beginnen mit Überlegungen über einen möglichen europäischen Rahmen für Mindestlöhne. Jeder Arbeitnehmer, jede Arbeitnehmerin muss über einen fairen Lohn verfügen, der einen angemessenen Lebensstandard gewährleistet. Zu viele Erwerbstätige in der EU rutschen jedoch immer noch in die Armut ab. Um dem entgegenzuwirken, müssen wir einen Konsens finden‚ der hohe Standards bei der Lohnfestsetzung fördert und gleichzeitig die schrittweise wirtschaftliche und soziale Konvergenz in der EU unterstützt, die Tarifverhandlungssysteme fördert und die Autonomie der Sozialpartner achtet. In jedem Vorschlag in diesem Bereich wird berücksichtigt werden, dass Mindestlöhne im Einklang mit den nationalen Traditionen durch Tarifverträge oder Rechtsvorschriften festgelegt werden sollten.

Die jüngsten Ereignisse haben gezeigt, dass globale Herausforderungen zu groß sind, als dass sie allein bewältigt werden könnten. Das gilt auch für die Zukunft der Arbeitsmärkte und deren Beitrag zu einem wettbewerbsfähigen, nachhaltigen und fairen Europa. Wir müssen uns weiterhin für höchste Standards einsetzen, damit alle Europäerinnen und Europäer ein würdiges und strebsames Leben führen können. (Nicolas Schmit, 14.1.2020)