Möwen kreischen über der Gletscherlagune, während Ingemar den triefenden Brocken mit einem Beil in Stücke hackt und diese an die Gäste verteilt: "Tausend Jahre alt!" Andächtig lutschen wir das Eis. Es ist so kalt, dass die Zunge beinahe daran festfriert. Der Vatnajökull hat es geboren, der gewaltigste Gletscher Europas. Er erstreckt sich über eine Fläche dreimal so groß wie Vorarlberg. Bis zu 950 Meter dick ist seine Eisdecke, und er hat 50 "Finger" (Ausläufer).

Der Vatnajökull ist der massivste Gletscher Europas, sein Eis bis zu 950 Meter dick.
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Ursprünglich war ganz Island von solchen Riesen bedeckt. Ihre Eismassen haben die Landschaften der Insel geprägt. Über Jahrmillionen schufen sie durch Druck und Erosion schroffe Felsformationen, Täler, Fjorde und Geröllwüsten. Schwer beeindruckt von Schnee, Kälte und Eis, so die Legende, prägte der norwegische Siedler Flóki Vilgerðarson im 9. Jahrhundert den Namen "Island" für die Insel – Eisland. Zehn Prozent der Landesfläche liegen bis heute unter ewigem Eis. Doch jetzt macht die Klimaerwärmung den Gletschern zu schaffen. "Sie schwitzen", sagt Ingemar, unser Guide mit den breiten Schultern. Die weißen Giganten schmelzen dahin. Ewig war vorgestern.

In der Lagune Jökulsárlón treiben die Eisberge – oder Eisbrockerl.
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Mitunter sieht die Agonie der Gletscher wunderschön aus: so wie an der Lagune Jökulsárlón, wo noch im Jahr 1940 hunderte Meter dickes Eis lag. Dann begann der Gletscher zu schrumpfen, und er legte das Erdreich unter sich frei. Zurück blieb eine 300 Meter tiefe Grube, die sich immer stärker mit Schmelzwasser füllt. Manchmal stürzen ganze Eiswände krachend in die Lagune hinab.

Tausendjähriges Eis

In Ingemars Amphibienboot tuckern wir zwischen Eisbergen umher, die surreal wirken, wie von Salvador Dalí gemalt. Manche sind knochenfahl, andere glänzen türkisfarben oder blau. Wieder andere sind grau-weiß gestreift. Bis zu zehn Meter ragen sie aus dem Wasser. Einige verjüngen sich gegen den Himmel, andere sehen wie Fabelwesen aus. "Kinder des Vatnajökull", sagt Ingemar und lenkt das Boot in weitem Bogen um einen besonders großen Eisberg herum. Das mit dem "tausendjährigen Eis" hat sich unser Guide nicht ausgedacht: Wissenschaftliche Untersuchungen ergaben, dass Eis tatsächlich so lange braucht, um sich hoch oben auf dem Vatnajökull zu bilden und ins Tal hinabzuwandern. Über Wochen werden die Eisberge in der Gletscherlagune dann immer kleiner, bis sie bei Ebbe durch einen schmalen Fluss aufs Meer hinaustreiben, wo schwere Wellen über sie hinwegdonnern.

Rund 1000 Jahre alt ist das Eis am Vatnajökull.
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Schon seit den 1930er-Jahren überwachen isländische Gletscherforscher, ob sich das ewige Eis verändert. Bauern, Pfarrer, Krankenschwestern und andere Laien unterstützen sie ehrenamtlich. Regelmäßig pilgern sie in die Berge und überprüfen die Position der Gletscherzungen. Noch aufschlussreicher ist die Massenbilanz. Um diese zu errechnen, dringen Experten im Frühling mit Spezialgeräten viele Meter tief durch den im Winter gefallenen Schnee vor. Anschließend bohren sie mit sechs Meter langen Aluminiumstangen in den darunter liegenden Firn – eine Vorstufe von Gletschereis, die entsteht, wenn Schneekristalle durch mehrfaches Auftauen und Gefrieren zu graupelartigen Gebilden verschmelzen. Ende September kommen die Glaziologen wieder und schauen nach, ob die Stangen aus dem Firn ragen und der Gletscher – über das gesamte Jahr hinweg – geschrumpft ist. Noch vor nicht allzu langer Zeit wuchsen die Gletscher mitunter. Seit 1995 aber sind ihre Bilanzen nur noch negativ.

Wechselnde Bergtouren

Snorri Svensson ist einer der Menschen, die mit der Klimaveränderung täglich zu kämpfen haben. In der Siedlung Svinafell, an der Ringstraße gelegen, wartet der rothaarige, drahtige Bergführer mit von der Sonne gegerbter Haut vor einem Bauwagen mit Seilen, Steigeisen und Karabinern auf seine Bergsteigergruppe. Hier, unweit der Südküste, beginnen zum Beispiel Touren auf den Hvannadalshnúkur, der als Ausläufer zum Vatnajökull gehört und mit 2110 Metern der höchste Berg Islands ist.

Die Bergführer auf Island müssen immer wieder neue Wege und Straßen suchen – weil sich die Landschaft so rapide verändert.
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Seit neun Jahren leitet der bärtige, 30-jährige Snorri, in grau-weiß gemustertem Islandpullover, Abenteuerwanderungen durch das ewige Eis. Doch was heißt schon ewig? "Wer in der Stadt wohnt, glaubt das mit der Klimaerwärmung ja oft nicht so recht", sagt Snorri. "Aber hier wird sie leider sehr deutlich." Alle paar Tage muss er die Routen seiner Touren verändern, damit die Teilnehmer nicht zu tief im matschigen Schnee einsinken. "Eines Tages", sagt der Bergführer nachdenklich, "werde ich den Urlaubern erzählen, wie es war, als es auf Island noch Gletscher gab."

Die blaue Eisgrotte im Vatnajökull bietet tiefe Einblicke in den Bauch eines isländischen Gletschers.
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Auf unsere Reisegruppe wartet an diesem Tag ein weiterer Höhepunkt: Statt auf den Gipfel eines Gletschers führt dieses Abenteuer tief in den Bauch des Langjökull, des zweitgrößten Gletschers Islands. Der Eisstollen, den wir betreten, wurde mit Spezialbohrern 500 Meter tief in den Gletscher gefräst, hinter der äußeren Eisschicht sind LED-Lampen angebracht. Bereits Mitte der 1990er-Jahre hatte ein Schafzüchter weiter unten am Gletscher einen Stollen in den Langjökull getrieben, erzählt Ingemar. Ohne Maschinen. Der Landwirt träumte von Eintrittsgeldern von Gletscherfans aus der ganzen Welt. Doch die Eismassen begruben seine Höhle bald unter sich. 2015 wurde die Idee in großem Stil wiederaufgegriffen. Von Gletscherforschern beraten, trieben Ingenieure den heutigen Stollen ins Eis. Viel weiter oben als die erste Höhle. Denn hier wälzen sich die Eismassen langsamer Richtung Tal als in den unteren Gefilden des Gletschers, und es besteht keine Einsturzgefahr.

Konservierte Liebe

Die "Alte Kapelle", eine grottenartige Ausweitung des Stollens, beeindruckt uns. Ursprünglich sollte sie als Cocktailbar eingerichtet werden. Aber die Akustik ist zu gut. Selbst diskretes Geflüster hört man bis in den hintersten Winkel. Nicht ideal für Urlaubsflirts. Dafür schmettern manche Guides hier zur Freude der Besucher isländische Volkslieder. Und die Grotte wird als Kapelle genutzt. Paare geben sich tief im Langjökull das Jawort. Nicht zuletzt wohl, auf dass die Kälte ihre Liebe für immer konserviere.

Doch die Klimaerwärmung kennt keine Gnade. "Lasst euch Zeit beim Fotografieren", sagt Ingemar ernst. "Nichts wird hier so bleiben." Eigentlich sollte es im Stollen konstant null Grad kalt sein, selbst wenn draußen die Sonne vom Himmel brennt. Sollte. Zum Glück haben einige von uns Schirme dabei. Denn Schmelzwasser tropft von der Decke: wie Nieselregen, tief im Bauch des Gletschers. Wenn die Hochrechnungen der Glaziologen zur globalen Erwärmung sich bewahrheiten, wird der Langjökull bis zum Ende dieses Jahrhunderts auf zehn Prozent seiner heutigen Ausdehnung zusammenschmelzen. Und bald darauf weg sein. (Till Hein, RONDO, 15.1.2020)