Eine Demonstration gegen Khalifa Haftar in Tripolis. Die Truppen Haftars versuchen seit April, die libysche Hauptstadt einzunehmen. Sie wird von der Regierung Serraj gehalten.


Foto: AFP / Mahmud Turkia

Von "gescheitert" stellte Russland Dienstagmittag den Befund über die libyschen Waffenstillstandsgespräche wieder auf "offen" um: Der aus Moskau in der Nacht überraschend abgereiste General Khalifa Haftar stehe einem Abkommen grundsätzlich positiv gegenüber, wolle sich jedoch, bevor er unterschreibe, mit seinen Verbündeten in Libyen beraten. Da hatte der türkische Präsident Tayyip Erdogan dem "Putschisten" Haftar jedoch bereits mit einer "Lektion" gedroht, sollte er die Offensive auf die libysche Hauptstadt Tripolis wiederaufnehmen.

Die Türkei unterstützt die international anerkannte, aber schwache Regierung von Fayez al-Serraj, politisch und militärisch, während auf Haftars Seite neben seiner "Libyschen Nationalen Armee" – einer Miliz – auch russische Söldner der Wagner-Gruppe kämpfen. Die Lufthoheit Haftars, der den Osten und Süden Libyens dominiert, wird jedoch vor allem durch die Assistenz der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) mit chinesischen Drohnen garantiert. Auch Ägypten steht auf Haftars Seite. Die Türkei ist jedoch dabei, Serraj nachzurüsten. Das türkische Parlament gab Anfang Jänner einem Ansuchen Tripolis statt, Truppen zu schicken: Bisher handelt es sich jedoch um militärische türkische Berater und Fachkräfte – sowie, so heißt es, syrische Milizionäre.

Der andere Schauplatz: Idlib

Russland und die Türkei stehen demnach, wie in Syrien, auf unterschiedlichen Seiten. Der Versuch eines Arrangements erinnert an jenes im syrischen Idlib, wo am Sonntag ebenfalls ein neuer Waffenstillstand verkündet wurde – was angesichts des Fokus auf Libyen beinahe unterging. Den Verzicht auf die Fortführung der Offensive in Idlib gegen von der Türkei unterstützte syrische Rebellen hatte Präsident Wladimir Putin dem syrischen Kriegsgewinner Bashar al-Assad vor einer Woche mit einem persönlichen Besuch in Damaskus schmackhaft gemacht. Anschließend fuhr er nach Istanbul, um Syrien und Libyen mit Erdogan zu besprechen.

Laut Russland sollte die libysche Waffenruhe trotz der fehlenden Unterschrift Haftars weiter gelten. Idealerweise würde die Vereinbarung als Grundlage für einen Libyen-Gipfel dienen, den Deutschland schon seit längerem plant und der nun am 19. Jänner stattfinden soll, wie am Dienstag bestätigt wurde: Wobei nicht allen gefällt, dass sich erstens nun Russland und die Türkei als Libyen-Spielmacher profilieren und zweitens Berlin in Europa das Libyen-Dossier in die Hand nimmt.

Aber die Mittelmeeranrainer Frankreich und Italien waren sich seit jeher uneinig, wie man zu Haftar stehen soll, der seine Offensive im April startete, um Tripolis von "Islamisten und Terroristen" zu säubern. Nicht nur Paris, auch Washington konnte – beeinflusst von den VAE und Ägypten – dieser Behauptung etwas abgewinnen, obwohl auf Haftars Seite sehr wohl auch salafistische Milizen kämpfen.

Der 76-jährige Haftar, General schon unter Muammar al-Gaddafi und später Dissident, hatte sich jedoch in Tripolis völlig überschätzt. Sein Angriff im April half Premier Serraj, seine disparaten militärischen Verbände – miteinander konkurrierende Milizen – gegen Haftar zusammenzuschweißen. Aber zuletzt war Haftar in der Stadt Sirte gelungen, was ihm in Tripolis verwehrt blieb: Durch den Seitenwechsel der dortigen Milizen brachte er die strategisch wichtige Heimatstadt des 2011 gestürzten Gaddafi unter seine Kontrolle.

Die Einnahme von Sirte

Das schwächt wiederum die Stadt Misrata – zwischen Sirte im Osten und Tripolis im Westen –, deren Milizen 2016 den "Islamischen Staat" aus Sirte vertrieben hatten. Sie sind die stärkste militärische Kraft auf Serrajs Seite.

Die jüngsten militärischen Gewinne dürften es Haftar, der ganz Libyen unter seine Kontrolle bringen wollte, erschweren, den Waffenstillstand anzunehmen. Dieser würde wohl die Rückkehr zu alten Positionen, idealerweise jenen vor Beginn der Offensive im April, vorsehen. Ein gewisser russischer Druck auf Haftar ist vorhanden, sonst hätte sich Moskau nicht als Vermittler zwischen Haftar und Serraj betätigt. Ob die Russen Haftar aber auch konkret Unterstützung entziehen würden, wenn er keine Kompromissbereitschaft zeigt, ist offen. Viel wird auch von der Einflussnahme der Vereinigten Arabischen Emirate auf Haftar abhängen und wiederum davon, ob die USA bereit sind, auf Abu Dhabi Druck auszuüben.

Selbst wenn Haftar und Serraj sich zu einem Waffenstillstand und Verhandlungen bekennen, ist die Frage, ob alle unter ihrem Dach versammelten militärischen Kräfte auch dazu bereit sind. Von Beginn ihrer Verkündigung am Sonntag an war die Waffenruhe brüchig, beide Seiten beschuldigen einander der Verletzungen. (Gudrun Harrer, 14.1.2020)