Wenn Lisa Kainzbauer über ihre Mutter spricht, tut sie das mit einer großen Offenheit. Es sei ihr ein Anliegen, sagt sie. "Was ist schon die Norm? Für mich war meine Mutter normal", sagt die 26-Jährige. "Als ich klein war, wusste ich nur, dass sie eine Krankheit hat und Medikamente nehmen muss." Dass ihr Verhalten nicht der Norm entspricht, hat Kainzbauer erst viel später verstanden. Ihre Mutter leidet an Schizophrenie.

Jeder hundertste Mensch erkrankt an Schizophrenie, und sogar jeder vierte ist einmal in seinem Leben von einer psychischen Erkrankung betroffen. Wie viele von ihnen Kinder haben, weiß man nicht. "Wir schätzen, dass jedes sechste Kind in Österreich betroffen ist", sagt Edwin Ladinser vom Verein Hilfe für Angehörige psychisch Erkrankter (HPE). Was man weiß, ist, dass diese Kinder oft jahrelang alleine mit der Situation klarkommen müssen. Laut einer Studie der Uni Wien aus dem Jahr 2012 pflegen 42.700 Minderjährige ihre Eltern. Dabei sind aber auch jene erfasst, deren Eltern nicht an psychischen Erkrankungen leiden. Genauere Zahlen gibt es nicht.

In einer Psychose kann sich die Wahrnehmung verändern, ein bisschen so wie in einem Rauschzustand.
Foto: Lisa Kainzbauer

Langer Weg zur Hilfe

"Es gibt viele Punkte, die es Kindern von psychisch Erkrankten erschweren, sich Hilfe zu suchen", sagt Vera Baubin von HPE. Zum Beispiel dauert es oft Jahre, bis eine psychische Erkrankung überhaupt diagnostiziert wird, mitunter auch, weil die Betroffenen selbst nicht erkennen können, dass sie eine Erkrankung haben. Besonders auf Kinder von alleinerziehenden Menschen mit psychischen Erkrankungen wird deshalb oft lange niemand aufmerksam. "Aber auch in psychiatrischen Abteilungen wird bei der Anamnese zu selten gefragt: Haben Sie minderjährige Kinder zu Hause?", sagt Baubin.

Als bei der Mutter Schizophrenie diagnostiziert wird, ist Lisa Kainzbauer fünf Jahre alt. Ihre Eltern hatten sich gerade getrennt. Der Vater bleibt in Oberösterreich, sie zieht mit ihrer Mutter nach Wien. Dort leben sie mit Großmutter und Urgroßmutter. "Meine Urgroßmutter war eine sehr fürsorgliche Frau. Sie hat für mich die Mutterrolle übernommen." Als sie 13 Jahre alt ist, stirbt die Uroma. Für die Jugendliche ein schwerer Verlust und ein Wendepunkt in der Krankheit ihrer Mutter.

Mutter eine Woche nicht erreichbar

"Damals hat meine Mutter aufgehört, ihre Medikamente zu nehmen. Zu der Zeit habe ich erst begriffen, was Schizophrenie ist", sagt Kainzbauer. Die Stimmungsumschwünge der Mutter nehmen zu, oft geht sie in der Nacht in der Wohnung auf und ab und spricht mit sich selbst. Manchmal verschwindet sie und ist eine ganze Woche lang nicht erreichbar.

Oder man sieht Dinge, die gar nicht da sind.
Foto: Lisa Kainzbauer

Entgegen einem gängigen Irrglauben hat Schizophrenie nichts mit multiplen Persönlichkeiten zu tun, sondern ist eine schwere, oft chronisch verlaufende psychische Krankheit, bei der sich die Wahrnehmung, das Denken, das Gefühlsleben und der Antrieb der Betroffenen verändert. Im akut psychotischen Zustand können wahnhafte Vorstellungen auftreten, man hört Stimmen, die einem Anweisungen geben, oder sieht Dinge, die gar nicht da sind. Für das Umfeld sind die Handlungen und Äußerungen der Betroffenen oft nicht nachvollziehbar.

Lisa Kainzbauers Oma ist mit der Situation überfordert, auch der Vater: "Ich glaube, er hat nie richtig verstanden, was die Krankheit bedeutet", sagt Kainzbauer. Weil die Großmutter nicht mit dem Familienbudget umgehen kann, nimmt sie die Finanzen selbst in die Hand. "Ich begann, einen Finanzplan aufzustellen."

Wütend auf die Familie

Sie gibt der Oma vor, was sie einkaufen und wie viel sie ausgeben darf. Sie sammelt die Rechnungen und schimpft sie, wenn zu viel Geld draufging. Wut, Machtlosigkeit, Angst, das sind die Gefühle, die Kainzbauer in der Zeit begleiten. "Ich war wütend auf die Inkompetenz meiner Familie, dass sie es nicht checken."

"Kinder psychisch Erkrankter müssen oft sehr früh selbstständig sein", sagt Vera Baubin von HPE. Sie kümmern sich selbst um ihre Schulangelegenheiten, den Haushalt, oft sogar die Erziehung der Geschwister. Es kommt zu einer Rollenumkehr zwischen Eltern und Kind, einer sogenannten Parentifizierung. "Als ich den Begriff, das erste Mal gehört habe, dachte ich: Wow, dafür gibt es ein Wort", sagt Kainzbauer.

Eines Abends reißt die Mutter in einer Psychose den Luster von der Decke und das Inventar aus den Regalen. Als die Tochter ihr den Schlüssel abnehmen will, wehrt sie sich. "Ich bin sofort in Tränen ausgebrochen, weil ich einfach Angst hatte", sagt Kainzbauer. Die Entscheidung, die Polizei zu rufen, ist keine leichte.

Lisa Kainzbauers Mutter streicht aus Büchern Wörter heraus. In ihrer Welt sind sie verboten.
Foto: Lisa Kainzbauer

"Ist dir das nicht zu arg?"

"Was ich nicht bedacht habe, war, dass mit der Polizei auch das Jugendamt kommt." Kainzbauer wird zu einem Gespräch eingeladen. Als sie von ihrem Alltag erzählt, stellt ihr die Sozialarbeiterin eine Frage: "Lisa, ist dir das nicht zu arg?" "Zuerst hab ich Nein gesagt, aber zu Hause bin ich dann in Tränen ausgebrochen und hab’ gemerkt: Nein, eigentlich ist mir das alles viel zu viel!"

Für Kainzbauer ist der Kontakt zum Jugendamt ein positiver Wendepunkt in ihrem Leben. Ihre Geschichte stehe aber nicht exemplarisch für die von anderen Jugendlichen, betont sie. "Viele wollen auf keinen Fall mit dem Jugendamt in Kontakt kommen."

Mithilfe der Sozialarbeiterin zieht Kainzbauer mit 16 in eine betreute Wohngemeinschaft und mit 18 in ihre erste eigene Wohnung. Als sie noch zu Hause gelebt hat, habe sie sich nie als Opfer gefühlt. Erst viel später habe sie gemerkt, was ihr in ihrer Jugend an elterlicher Wärme verwehrt geblieben ist. Was ihr damals geholfen hätte? "Mein Umfeld hätte besser hinschauen können, aber dadurch, dass ich tough war, fühlten sich die Leute berechtigt, wegzuschauen. Man kann von einem jungen Mädchen nicht erwarten, dass sie sich selbst Hilfe sucht."

In der Wohnung von Lisa Kainzbauers Mutter sind alle Wände vollgeschrieben. Mit unzusammenhängenden Sätzen, Wörtern und Namen von Prominenten.
Foto: Lisa Kainzbauer

Verarbeitung mittels Fotos

Ihre Erfahrungen hat Kainzbauer während des Fotografiestudiums in einem Buchprojekt verarbeitet. "Ich habe versucht, mit Fotos zu zeigen, wie sich Schizophrenie für die Betroffenen anfühlt." Im Nachhinein weiß sie genau, welche Spuren ihre Vergangenheit hinterlassen hat. "Ich tue mir bis heute schwer, Kontrolle abzugeben. Andererseits kann ich ziemlich gut mit Geld umgehen. Das kann man auch als Ressource sehen", sagt sie.

Ihre Mutter nimmt mittlerweile wieder Medikamente und lebt in einer eigenen Wohnung. Was in ihrem Kopf vorgeht, kann man an ihren Wänden ablesen. Sie sind vollgeschrieben mit unzusammenhängenden Sätzen, Worten oder Namen von Prominenten. Der Zustand ihrer Krankheit stabilisiert sich langsam, ganz geheilt wird sie aber wohl nie werden. "Meine Mutter ist eine Heldin, weil sie diese Krankheit aushält", sagt Lisa Kainzbauer. Kindern, denen es heute so geht wie ihr damals, will sie sagen: "Es ist nie ein Fehler, sich Hilfe zu suchen." (Johannes Pucher, 28.1.2020)