Bild nicht mehr verfügbar.

Vor über 1.000 geladenen Gästen sorgte der russische Präsident am Mittwoch für einige Überraschungen.

Foto: Reuters / Shamil Zhumatov

Zu Beginn seiner gut einstündigen Rede zur Lage der Nation deutete wenig auf eine Sensation hin: Schon im Vorfeld hatte Putin selbst durchsickern lassen, sich in der Rede auf soziale Fragen konzentrieren zu wollen. Daneben, so hieß es, werde Putin in bewährter Manier die Stärkung des Patriotismus fordern.

Tatsächlich hielt sich der Kreml-Chef aber nur in der ersten Hälfte seines Referats vor den weit mehr als 1.000 geladenen Gästen des Staatsrats an das Szenario. Dann kündigte er überraschend eine Reihe von Verfassungsänderungen an, die das politische System umstülpen.

"Gewachsene politische Reife"

Wichtigste Neuerung ist die stärkere Ausbalancierung des Machtgefälles zwischen Präsident und Parlament. Bisher war die Macht fast vollständig in der Hand des Präsidenten konzentriert. Putin selbst schlägt nun vor, dies "aufgrund der gewachsenen politischen Reife Russlands" zu ändern. Und so gibt der Präsident die Kontrolle über die Regierung ab. Diese soll künftig von der Staatsduma ernannt werden, die bisher nur die Kandidaten Putins absegnen durfte. Nun verpflichtete sich Putin selbst, die von der Duma vorgeschlagene Regierung zu ernennen.

Er behält sich allerdings das Recht vor, Regierung und Minister wieder abzusetzen, wenn sie seinen Erwartungen nicht gerecht werden. Außerdem beansprucht Putin für sich "weiter die direkte Führung der Streitkräfte und aller Sicherheitsorgane". Das bedeutet, dass der Präsident weiterhin die Führung aller Geheimdienste, der Streit- und Polizeikräfte sowie der Justizbehörden ernennt. Künftig allerdings erst nach Konsultationen mit dem Föderationsrat, dem Oberhaus des Parlaments. Wegen der Größe Russlands und der Verschiedenheit seiner Regionen sei es nicht zweckmäßig, die präsidiale Republik vollständig in eine parlamentarische umzuwandeln, argumentierte Putin.

Parlament aufgewertet

Trotzdem bedeuten diese Änderungen eine deutliche Aufwertung des russischen Parlaments, das viele Russen bisher wegen der Eile, mit der die Abgeordneten Gesetzesinitiativen von oben abnickten, verlachten. Nun soll der Föderationsrat auch das Recht bekommen, Entlassungen von Richtern des Obersten Gerichts und des Verfassungsgerichts beim Präsidenten einzufordern, wenn diese, so Putin, den moralischen Ansprüchen nicht gerecht würden.

Alle Verfassungsänderungen sollen später durch ein Referendum gebilligt werden. Das letzte Referendum gab es 1993 bei der Verabschiedung der aktuellen Verfassung. Die Neuerungen sollen laut Putin dem "Wunsch der Bürger nach Veränderungen" gerecht werden und eine Erneuerung der Elite ermöglichen. Seinen eigenen Abgang als Präsident 2024 bestätigte Putin damit ebenfalls: Mit der Begrenzung der Amtszeit auf zwei Perioden sei er "einverstanden, auch wenn ich das nicht für prinzipiell halte", sagte er wörtlich dazu. Sollte Putin nach seinem Auszug aus dem Kreml Premier werden, wäre er aber zugleich unabhängiger vom neuen Präsidenten.

Spielraum für Putin

Die Reaktion auf die Ankündigungen Putins folgte sofort: Regierungschef Dmitri Medwedew bot unmittelbar danach bei einem Treffen der Regierung mit dem Präsidenten seinen Rücktritt an. Medwedew erklärte, Putin habe fundamentale Verfassungsänderungen angestoßen. "Vor diesem Hintergrund ist es offensichtlich, dass wir als Regierung dem Präsidenten die Möglichkeit geben müssen, alle dafür notwendigen Entscheidungen zu treffen", sagte er. Der Rücktritt des Kabinetts sei daher folgerichtig, so Medwedew bei dem Treffen der Regierung mit Putin nach dessen Rede zur Lage der Nation.

Putin hat den Rücktritt angenommen und sich für die gemeinsame Arbeit bedankt, "auch wenn nicht alles geklappt hat". Er bat die Kabinettsmitglieder, vorläufig ihre Arbeit fortzuführen. Kurz darauf schlug Putin den Chef der nationalen Steuerbehörde, Michail Mischustin, als neuen Ministerpräsidenten vor. Mischustin habe bereits zugestimmt, meldeten russische Nachrichtenagenturen am Mittwochabend unter Berufung auf den Kreml. Politisch ist Mischustin bisher kaum in Erscheinung getreten. Der 53 Jahre alte Wirtschaftsexperte aus Moskau steht seit 2010 an der Spitze der Behörde.

Das Parlament muss den Wunschkandidaten von Putin noch bestätigen. Das gilt jedoch unter Beobachtern als Formsache. Die Verfassungsänderungen mitsamt der Implementierung durch ein Referendum werden sich aber noch einige Monate hinziehen. (André Ballin aus Moskau, 15.1.2020)