Turku an einem Nachmittag im Jänner: Während hinter dem zugefrorenen Fluss Aura die Sonne versinkt, ist überm Dom die Milchstraße zu sehen.

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Der Mann, der in finsteren Zeiten die Nacht zum Tag macht, justiert nach. Jane Auvinnen zwickt die Augen zusammen, als würde ihn die Sonne blenden, dabei ist es ein dunkler Wintertag, an dem er mit Fellmütze und buntem Schal und dicken Handschuhen über die Fußgängerbrücke des Aura-Flusses stiefelt. Das Geländer leuchtet blau, ein Blau, das einmal silbrig schimmert, einmal fast weiß. An den Seiten steigen gelbe Lichtfontänen in den Himmel, schießen rote Leuchtkugeln nach oben und spiegeln sich auf der Wasseroberfläche. Die Häuser liegen im Dunkeln, die Bäume sind nur eine Ahnung am schwarzen Nachthimmel.

Wir stehen auf der Bibliotheksbrücke von Turku, im Rücken den Vartiovuori-Park, der älteste übrigens von Finnland. Vor uns die Stadtbibliothek, dahinter das Zentrum mit Markt. Es ist 15 Uhr. Und wieder ist es dunkel, gefühlt wurde es nie richtig Tag, selbst am Mittag sah die Sonne matt aus wie hinter einer Milchglasscheibe. Janne prüft die Leuchtstrahler der Brücke, die alle paar Meter am metallenen Geländer angebracht hat. Der Mann, ein Lichtdesigner, erhellt mit dieser Überdosis Kilowatt die Stadt – und die Gemüter der Turkuer. "Im Moment gibt es nur fünf Stunden Tageslicht, das macht schwermütig. Da muss nachgeflutet werden!", sagt der 53-Jährige.

Farben der Dunkelheit

Die 180.000-Einwohner-Stadt ganz im Südwesten Finnlands liegt zwar gut 800 Kilometer südlich des Polarkreises, aber jetzt, im Jänner, hat der Winter die Gegend fest im Griff. Eisschollen tanzen auf dem Fluss, die Wolken hängen tief. Auf den Loipen sprinten die Langläufer unter Laternen, die Eisläufer ziehen ihre Runden im Flutlicht der künstlichen Eisbahnen des Sportstadiums Paavo Nurmi.

Mit Lichtinstallationen, viel Kunst und lustigen Aktionen die langen Nächte mit 876 Farben der Dunkelheit bespielen – das war Jannes Idee, ausgeheckt an einem der Abende im Wirtshaus, die im winterlichen Turku früh beginnen und endlos dauern. Es folgte ein handfestes Konzept, der Rest war Glück: 2011 bekam Turku den europäischen Kulturhauptstadtstatus, da flossen Gelder für Ideen, die sonst in den Schubladen der Behörden verschimmeln. "Wer ein echter Finne ist, wie ich, der braucht Ausdauer", sagt Janne: "Und Humor natürlich. Schrägen Humor am besten." Warum 876 Farben, wurde Janne gefragt – warum nicht, war seine Antwort. Eine Fantasiezahl. Der Mann mit dem Charisma eines Wirts lacht laut auf und klopft sich auf seinen Bauch.

Heavy Metal als Aufputschmittel

Das Projekt endete nach zwölf Monaten. Zumindest offiziell. Aber Jannes Idee wurde zum Selbstläufer und zu einer winterlichen Attraktion in Finnland. Häuserfassaden, Straßen, Parks, Gehsteige, Brücken, das Schloss aus de Auram 13. Jahrhundert strahlen seither schon am Nachmittag im Kunstlicht, das Theaterfoyer leuchtet sogar die ganze Nacht. Janne steht jetzt am Ende der Brücke, zieht sein Handy aus der Tasche. Zu den jeweiligen Lichtinstallationen gibt es eine App mit Musikvorschlägen: Er drückt den Button Heavy Metal, wählt Stratovarius, seine Lieblingsband. Ein musikalisches Aufputschmittel, das Stimmungstiefs wegknallt und die Seele erfrischt. "Wenn du Kopfweh hast, sind die auch sofort weg, wenn dir jemand mit dem Hammer auf den Zeh haut", sagt Janne.

Vielleicht ist es genau das, was Turku so spannend macht: dass sich eine ganze Stadt mit Humor den lichtlosen Monaten entgegenstemmt. Als ob die Turkuer auf Jannes Impuls nur gewartet hätten, übertrumpft sich die Stadt inzwischen mit einer Art Guerilla-Beleuchtung. An Bäumen funkeln Lichtergirlanden, in den Toreingängen baumeln bunte Lampions über Fahrrädern und Kinderwagen. In den Parks stehen selbstleuchtende Bänke und zu alledem blitzen überall Reflektoren in der Dunkelheit auf, auch an den Turkuern selbst, die so viel Licht nehmen, wie sie kriegen können: Reflektoren als Blumenanhänger an ihren Taschen, als Schuhbänder und als reflektierende Wolle in Schals und Mützen.

Bunte Astronauten

Gegen 19 Uhr bilden sich schon lange Schlangen vor den Clubs. Studenten warten in bunten Skioveralls in der Winterkälte. Aus Jux haben sich die Fakultäten auf Farben für ihr Draußenoutfit geeinigt. Die Mediziner tragen Schwarz, die Pädagogen Rot, die Ökonomen Blau. Drinnen steigen sie dann wie Astronauten aus ihren Anzügen, tragen Hemden, Röcke, zeigen Haut.

Im Club wird erstaunlicherweise nur Rotwein getrunken. Während es für die Alten noch ein gelungener Abend war, wenn diese sich an selbigen nicht erinnern konnten, setzen die Jungen auf Genuss. Der Filmriss ist verpönt. Jetzt im Winter rückt man zusammen. Aber nicht zu sehr, meint Jusse Hansen, der Ökonomie-Student an der Bar. Neben ihm stehen zwei Frauen. Er plaudert, ohne sich auf einen Flirt einzulassen. Finnische Männer benähmen sich wie Bären, die Winterschlaf halten, war in einer lokalen Zeitung zu lesen. Fortpflanzung ausgesetzt. Sie würden die winterliche Trägheit brauchen, Monate innerer Einkehr, ohne beim Flirt ins Schwitzen zu kommen.

Dampfende Körper

Apropos schwitzen. Die Sauna auf Ruissalo, einer Schäreninsel, nutzen die Turkuer am Wochenende, wenn ihnen die private zu langweilig wird. Ein schmaler Streifen letztes Sonnenlicht taucht den Horizont am Saaronniemi-Strand in Orangerot, das sich in der Ostsee widerspiegelt. Heute ist Frauentag. Die Damen hocken auf der obersten Bank, allesamt in Badeanzug, mit Mütze und Handschuhen. Bei 100 Grad. Es gibt kein Aroma, kein Birkenreisig, keine zeitmessende Sanduhr. Irgendwann ziehen alle die Mütze tiefer in die Stirn und schreiten zur Tür.

Im Gänsemarsch geht es auf den Steg entlang zur Treppe am Meer. Die Körper dampfen. Eine nach der anderen taucht zwischen den Eisschollen ab, lacht und prustet. Dann – ganz langsam – überziehen flimmernde, grüne Schleier den Himmel. Polarlichter! Davon hatte Janne nichts erzählt. Wahrscheinlich hat der Lichtdesigner das bewusst verschwiegen. Sonst hätte man wohl zu sehr darauf gewartet. (Birgit Weidt, 20.1.2020)