Wer nicht ausdrücklich zustimmt, ist in Deutschland kein Organspender.

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Berlin – Als der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am Donnerstagmorgen den Deutschen Bundestag betritt, da ist er noch voller Hoffnung. Gleich um neun Uhr wird jener Tagesordnungspunkt behandelt, für den er sich seit Monaten starkgemacht hat: die Neuregelung der Organspende.

Derzeit gilt in Deutschland die Zustimmungslösung. Man muss aktiv seine Zustimmung zur Organspende geben – anders als in Österreich. Dort ist Spender, wer nicht widerspricht. Diese hat auch Spahn für Deutschland im Blick, genauso wie der Gesundheitsexperte der SPD, Karl Lauterbach.

"Doppelte Widerspruchslösung" heißt das für Deutschland angepeilte Modell. Wer widerspricht, muss sich in ein neues Register eintragen lassen. Dieses sollen Ärzte dann vor einer Transplantation abfragen. Finden sie dort kein Nein vor, ist auch noch die Befragung von Angehörigen vorgesehen. Sie sollen Auskunft geben, ob sie einen anderen Willen des Verstorbenen kennen.

Lauterbach ist der erste, der ans Rednerpult tritt. "In Deutschland sterben jedes Jahr mehr als 1000 Menschen auf der Warteliste", sagt er. Ungewöhnlich still ist es im Plenum, man sieht viele nachdenkliche Gesichter. Zwar sind die Abgeordneten in der Frage der Methodik gespalten. Doch sie eint ein Bemühen: Deutschland soll mehr Organspender bekommen.

Ein Geben und Nehmen

"Es gibt keine Pflicht zu spenden", betont Lauterbach bei seinem Werben für die Widerspruchslösung, aber "es gibt eine Pflicht, Nein zu sagen". Viele Menschen hätten im Ernstfall gerne ein Spenderorgan, seien aber nicht bereit, selbst zum Organspender zu werden. "Es ist unethisch, ein Organ zu nehmen, aber nicht zumindest Nein zu sagen", meint er.

Die Gegenposition nimmt Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock ein. Sie steht an der Spitze derer, die für die sogenannte "Entscheidungslösung" plädieren. Diese bedeutet: Man muss für eine Organspende weiterhin aktiv seine Zustimmung geben, auch diese soll in einem Online-Register verzeichnet werden.

Darüber hinaus soll es mehr Information für die Bevölkerung geben. Wer etwa seinen Pass oder Personalausweis beantragt, wird auf den Ämtern zwar nicht beraten, aber doch auf die Möglichkeit der Organspende hingewiesen. Auch Hausärzte sollen ihre Patienten besser beraten.

"Wir stimmen heute über eine hochethische Frage ab", sagt Baerbock, "wir stimmen aber auch darüber ab, wem gehört der Mensch. In unseren Augen gehört er nicht dem Staat, nicht der Gesellschaft, er gehört sich selbst." Ihr Argument, dass jeder bei einer so weit reichenden Entscheidung selbst zustimmen müsse, ist immer wieder auch von anderen zu hören, die Spahns Widerspruchslösung ablehnen.

"Zutiefst persönliche Frage"

So erinnert die Grünen-Abgeordnete Kirsten Kappert-Gonther daran, dass man bei einer Impfung und selbst beim Newsletter-Versand zuerst einmal zustimmen müsse. "Zu Recht", sagt sie. Also könne nicht bei so einer "zutiefst persönlichen Frage" wie der Organspende Schweigen auf einmal Zustimmung bedeuten, "das kann doch nicht sein".

Immer wieder erzählen Abgeordnete von Betroffenen. "Haben Sie schon einmal auf einen Anruf gewartet, der Ihr Leben verändern kann", fragt Gitta Connemann (CDU) und erwähnt ihren Mitarbeiter. Der hätte ein Organ gebraucht, aber habe keines bekommen und sei verstorben. Sie bittet, für die Widerspruchslösung zu stimmen: "Für alle, die noch warten. Für Lebenszeit."

Kultur der Organspende

Auch Minister Spahn selbst meldet sich zu Wort und bezeichnet die Widerspruchslösung als Signal: "Ja, wir wollen eine Kultur der Organspende." Und er sagt: "Jeder von uns ist potenzieller Organempfänger."

Bei der namentlichen Abstimmung sind die Abgeordneten frei und nicht dem Fraktionszwang unterworfen. Zuerst wird über Spahns Antrag befunden, er wird abgelehnt. Noch bevor Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki aussprechen kann, freut man sich im Baerbock-Lager hörbar, worauf Kubicki entschieden ersucht, von "Beifallsbekundungen Abstand zu nehmen".

Als der Antrag Baerbocks kurz darauf angenommen wird, ist das eine Niederlage für Spahn. Er verspricht, die Entscheidungslösung zu unterstützen und twittert: "Es gibt hier kein richtig oder falsch, es ging nicht um Gewinnen oder Verlieren. Es geht darum, Menschen in Not zu helfen. Allein die gesellschaftliche Debatte war hier schon ein Wert an sich."

72 Prozent der Deutschen wären bereit zu Organspende

Der Großteil der deutschen Bevölkerung, nämlich 84 Prozent, hat eine positive Einstellung zu Organspenden. Das zeigt eine repräsentative Umfrage im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) unter 4.000 Personen zwischen 14 und 75 Jahren aus dem Jahr 2018. Demnach wären 72 Prozent grundsätzlich bereit, selbst Spenderin oder Spender zu werden. 21 Prozent wären damit nicht einverstanden. Mit einer durchschnittlichen Spenderrate von 11,2 pro Million Einwohner ist Deutschland allerdings international weiter eines der Schlusslichter.

In Europa überwiegt die Widerspruchslösung. Rund 20 Staaten haben sie eingeführt. Jeder Bürger, der nicht ausdrücklich widerspricht, ist damit ein potenzieller Organspender. Darüber hinaus gilt in einigen Ländern eine erweiterte Zustimmungslösung – etwa in Dänemark, Island, Litauen, Rumänien und der Schweiz. In Bulgarien kann man sogar gegen den eigenen Willen zum Organspender werden.

Spanien ist mit einer Quote von 46,9 Spendern auf eine Million Einwohner Weltführer bei den Organspenden. Auch hier gilt die Widerspruchsregel. Eine Organentnahme darf dort aber auch bei einem Herztod geschehen. (Birgit Baumann aus Berlin, red, 16.1.2020)