Alexej Gontscharuk (re.) bietet Präsident Wolodymyr Selenskyj (li.) den Rücktritt an, um doch Premier zu bleiben.

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Kiew – Zur geplanten Fragestunde in der Rada am Freitag kam Premier Alexej Gontscharuk verspätet. Er teilte lediglich mit, dass die Regierung vorläufig weiterarbeiten werde: Am Morgen hatte der 35-jährige Jurist seine Rücktrittserklärung in der Präsidialverwaltung abgegeben. Am Abend entschied Präsident Wolodymyr Selenskyj jedoch für den Verbleib Gontscharuks und lehnte den Rücktritt ab: Er werde ihm und seiner Regierung "eine zweite Chance" geben.

Der jüngste Premierminister in der Geschichte der Ukraine war erst im August angetreten, um die wirtschaftlichen Probleme der Ukraine zu lösen. Die Reformen sind hochumstritten. Doch nicht die geplante Landreform hat Gontscharuk zu Fall gebracht, sondern seine angeblichen Aussagen über Selenskyj: Dem habe er ein "sehr primitives Verständnis ökonomischer Prozesse" nachgesagt. In einem am Mittwoch anonym ins Netz gestellten Audiomitschnitt ist eine Stimme zu hören, die angeblich Gontscharuk gehört, der im Gespräch mit anderen Topbeamten des Wirtschaftssektors Selenskyj "Leere" und "Nebel im Kopf" attestiert.

Vom Wirtschaftsberater zum Premier

Die Tonaufnahmen riefen augenblicklich einen Skandal hervor. Gontscharuk wird als Premier zwar vom Parlament bestimmt, doch dort hat Selenskyjs Partei Diener des Volkes die Mehrheit. Zudem war Gontscharuk vorher Wirtschaftsberater Selenskyjs. Ohne dessen Vertrauen wäre er politisch am Ende gewesen.

Die Aufnahmen nannte Gontscharuk aus dem Zusammenhang gerissen, "um künstlich den Eindruck zu erwecken, als ob ich und meine Mannschaft den Präsidenten nicht achten, der unser politischer Anführer ist". Sein Schritt diene dazu, "alle Zweifel an der Hochachtung und dem Vertrauen, das ich gegenüber dem Präsidenten hege, zu zerstreuen", begründete er das Abdankungsschreiben.

"Er ist für mich ein Vorbild an Offenheit und Anständigkeit", schrieb Gontscharuk weiter. Da die Menschen in der Ukraine Selenskyj bei der Wahl das volle Vertrauen ausgesprochen hätten, habe er auch das Recht, die Effizienz jedes einzelnen Mitarbeiters zu bewerten, führte der Premier aus.

Affäre mit Sprengkraft

Für Selenskyj ist die Affäre auch unbequem. Er hatte sich zuletzt in der Donbass-Krise engagiert und erste Fortschritte erreicht. Die Wirtschaftsfragen hingegen überließ er seinem Team – um Gontscharuk. Der mutmaßliche Vertrauensbruch bietet daher jede Menge Sprengkraft. Tatsächlich ist Selenskyj ein Politik-Neuling, bis zu seinem Wahlsieg im vergangenen Jahr war der 41-Jährige als Fernsehkomiker tätig. (André Ballin aus Moskau, 17.1.2020)