Als der Bürgermeister hörte, dass eine Frau, die in Tuzla geboren wurde, Ministerin in Österreich werden sollte, wusste er sofort, "dass sie bei den Grünen ist". "Es ist ja geradezu in ihrer Geburtsurkunde festgeschrieben, dass sie eine Linke ist", klärt Jasmin Imamović darüber auf, wie seine Stadt tickt. Er ist sich sicher, dass Alma Zadić, die Tuzlanka, gerade wegen ihrer Herkunftsstadt gleiche Rechte für alle Bürger verteidigen werde. "Auch weil sie in sozialen Netzwerken angegriffen wurde, wird sie nun ein Symbol des Schutzes für alle werden", meint er. Für Tuzla sei es jedenfalls eine große Ehre, dass die österreichische Ministerin aus der nordostbosnischen Stadt stamme.

Jasmin Imamović, Bürgermeister von Tuzla zitiert gerne Stefan Zweig und will gegen den Nationalismus ankämpfen.
Foto: Adelheid Wölfl

Tatsächlich geht von Tuzla ein revolutionärer, überkonfessioneller und transnationaler Widerstandsgeist aus. Die Stadt war für die Arbeiterbewegung in der Zwischenkriegszeit europaweit als Zufluchtsort bekannt. So flüchtete etwa die slowenische Revolutionärin Amalia Lebeničnik, eine Mitkämpferin von Rosa Luxemburg nach dem gescheiterten Aufstand 1919 in Deutschland, nach Tuzla. Lebeničnik arbeitete hier als Gewerkschafterin, war während des Zweiten Weltkriegs als Anführerin der Antifaschisten in der Stadt aktiv und wurde deshalb 1942 unter dem damals faschistischen kroatischen Staat zum Tod verurteilt.

Elf Sprachen, 23 Nationalitäten

Das Wort Tuzla kommt von der türkischen Bezeichnung "tuz" für Salz. Nirgends sonst in der Region gab es solche Vorkommen. Salz wurde hier bereits im Mittelalter, unter der Herrschaft der bosnischen Könige, gewonnen. Aber erst in der Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie wurde das weiße Gold auf industrieller Basis exploriert. 1891, als die Salzfabrik mit ihren drei Schloten gebaut wurde, strömten Leute aus der gesamten Monarchie hierher. Soda wurde ab 1893 in der Solvay-Fabrik erzeugt. In Tuzla sprach man 1910 elf verschiedene Sprachen, 23 Nationalitäten lebten in der Stadt, 30 Prozent der Einwohner waren Ausländer. Ingenieure kamen aus Tschechien, Arbeiter aus der Bukowina, Beamte aus Österreich.

Die Österreicher hinterließen auch Spuren. Adolf Engel etwa eröffnete 1895 die erste Druckerei in Tuzla. Nach dem Bildhauer Franjo Leder – die Mutter war eine Wienerin – ist eine Straße im Zentrum benannt. In diesen Wintertagen hängt der Smog aber so schwer über der Franjo-Leder-Straße, dass man durch die Ansammlung von Feinstaubpartikeln kaum das Straßenschild erkennen kann.

"Das letzte freie Territorium"

Tuzla ist auch ohne Smog keine wirklich schöne Stadt, aber es ist sicherlich die beliebteste in Bosnien und Herzegowina. Denn hier leben geradlinige Menschen, die sich nicht zur Gänze vom grassierenden völkischen Nationalismus rundherum haben anstecken lassen. "Ein Turm der Humanität" und das "letzte freie Territorium" wurde die Stadt deshalb von Schriftstellern genannt.

"Sie ist ein europäisches Kind", sagt ihr Onkel über Alma Zadić. "Sie ist im Geist der Arbeiterstadt aufgewachsen, also europäisch", erzählt Džemal Pirić, der im Café vom Hotel Tuzla, einem sozialistischen Betonbau in der Nähe ihres Herkunftsbezirks, Platz genommen hat. Einmal im Jahr etwa komme sie auf Besuch nach Tuzla, meistens im Sommer. "Sie ist ein Vorbild für die jungen Leute", fährt Pirić fort. "Denn Alma zeigt, dass sich jeder durchsetzen kann, wenn er weiß, was er will, und hart arbeitet." The Austrian dream sozusagen. Die Familie der neuen Ministerin habe gar keine Worte dafür, wie glücklich und froh man darüber sei, dass sie es geschafft hat.

Namens-Rassismus

In Tuzla wird nun viel über Alma Zadić geredet. Viele denken, dass die rechtsradikalen Hassattacken auf sie von der Balkan-Diaspora, die in Wien lebt, in die Welt gesetzt worden sind. Denn nur Leute, die sich mit Südosteuropa auskennen, könnten überhaupt wissen, dass der Name der Justizministerin im regionalen Kontext als muslimisch gilt, obschon dieser natürlich tatsächlich nichts mit dem tatsächlichen Glauben oder der Gesinnung der Menschen zu tun haben muss. Denn Zadić ist bekanntermaßen keine Muslimin.

Neu ist, dass nun sogar in Österreich dieser Namensrassismus üblich ist. In Bosnien-Herzegowina ist das Alltag. Der Name steht nämlich für die Religionszugehörigkeit, und diese wird mit einer angeblichen Nationalität gleichgesetzt.

Nationalismus bekämpfen

Imamović fordert genau wegen dieses völkischen Denkens historisches Bewusstsein. "Europa hat bereits seinen Glauben verloren, wenn es um die europäischen Juden geht. Das wird immer ein dunkler Fleck auf dem Gesicht Europas bleiben", sagt er. Und fügt hinzu: "Europa sollte nun daran arbeiten, dass nicht gegen eine andere Gruppe, nämlich Leute mit einem muslimischen Hintergrund, vorgegangen wird." Denn Stefan Zweig habe bereits gesagt, dass der Nationalismus die Pest Europas sei. "Wir müssen ihn bekämpfen, wo auch immer er herkommt."

Im März 1994 verließ die Familie Zadić Bosnien-Herzegowina, so wie zehntausende andere Bosnier. Die rechtsradikale politische Führung in Pale hatte im Jahr 1992 einen Krieg in dem kurz zuvor unabhängig gewordenen Staat Bosnien-Herzegowina begonnen, um Gebiete zu erobern und diese danach an ein Großserbien anzugliedern. Die ethnischen Säuberungen, die sich vor allem gegen Menschen mit muslimischen Namen richteten, begannen im Jahr 1992.

Kapija: Im Zentrum von Tuzla befindet sich die Gedenkstätte, die an den Granatenbeschuss durch die Armee der Republika Srpska am 25. Mai 1995 erinnert. Damals wurden 71 – vorwiegend junge Menschen – getötet.
Foto: Adelheid Wölfl

Granate am 25. Mai 1995

Auf dem sternförmig angelegten Platz kann man auf einer Gedenktafel oberhalb einer Schachtel, in der ein frierender brauner Hund liegt, von der letzten Tragödie der Stadt lesen. Am 25. Mai 1995, mehr als ein Jahr nachdem die Familie Zadić aus Tuzla geflohen war, schoss die Artillerie der Armee der Republika Srpska auf die Arbeiterstadt. Es war ein warmer Abend, die Leute trauten sich gerade erst wieder hinaus.

Die UN-Schutzzone wurde im Herzen getroffen. 71 Menschen wurden getötet, 173 verletzt. Die meisten Todesopfer waren zwischen 15 und 26 Jahre alt, nur acht der Getöteten waren älter als 30. Das jüngste Opfer war ein zweijähriger Bub. Die damals zehnjährige Alma Zadić war damals schon in Sicherheit in Wien. Heute wird mit einem Gedicht an das Verbrechen und den "serbisch-faschistischen Aggressor" auf der Gedenktafel erinnert.

1994 Flucht nach Wien

Vater Zadić war vor der Flucht Professor für Elektromechanik an der Universität in Tuzla, die Mutter arbeitete als Bauinspektorin für die Stadtgemeinde. Die Übersiedlung nach Wien war eine Riesenherausforderung für die Familie. Keiner von ihnen konnte Deutsch, der Vater bekam aber wegen seiner Expertise schnell einen Job in Wien. Der Mutter war es vor allem ein Anliegen, dass die Kinder schnell die neue Sprache lernten. Den Kindern wurde vermittelt, dass sie eine Chance haben, wenn sie Leistung zeigten.

Beide, Alma und ihr Bruder Armin, studierten später Jus. Sie machten Karriere. Bei der Angelobung der türkis-grünen Bundesregierung in Wien trafen sich die Eltern von Alma Zadić und die Eltern von Sebastian Kurz, erzählt Onkel Džemal Pirić. Die Eltern von Kurz hätten den Eltern von Zadić geraten: "Lesen Sie bitte nicht die Kommentare zu Ihrer Tochter im Internet. Einfach nicht lesen!" So war angesichts des Shitstorms gegen die Juristin Zadić eine Art Selbsthilfegruppe von Politikereltern entstanden.

Kohlekraftwerk verpestet die Luft

"Aber morgen, wenn ich die bösen Zungen treffe, dann kann ich stolz sagen, dass ich alles versucht habe, um sie niederzuringen", singt der Rapper Frenkie, der wohl berühmteste Bürger des heutigen Tuzla. Widerstandsgeist und Kampfbereitschaft sind trotz Massenauswanderung, Armut und Arbeitslosigkeit nicht gebrochen. 2014 begannen in Tuzla die Sozialproteste, die sich über das Land ausbreiteten. Hier wurde das Plenum erfunden, eine Bürgerversammlung.

Dominiert wird die Stadt heute vom Kohlekraftwerk, das die Luft verpestet. Auf einem Hügel ist ein Monument für Tito und 18 Partisanen zu sehen. Weil Tuzla durch die Salzgewinnung immer weiter absank und einige Teile der Stadt unter Wasser standen, wurde die Salzproduktion 2005 ganz eingestellt. Stattdessen gibt es nun drei Badeseen, die das Abrutschen des Geländes zum Freizeitvergnügen umfunktionierten.

Der "Bergarbeiter von Husino" ist Symbol jener Stadt, in der Justizministerin Alma Zadić 1984 geboren wurde.
Foto: Adelheid Wölfl

"Bergarbeiter von Husino"

Der symbolische größte Held der Stadt steht mit Gewehr mächtig und schwarz unweit des Bahnhofs, wo nun pakistanische Migranten in bunten Zelten campen. Der "Bergarbeiter von Husino" erinnert an den Arbeiteraufstand von 1920. Die Tagelöhne der Arbeiter waren damals gesenkt worden. Arbeiter, die streikten, wurden auf die Straße gesetzt. Andere nahmen sie solidarisch bei sich auf. Schließlich setzte das damalige von Belgrad dominierte Königreich Gewalt ein: 35 Menschen wurden getötet, viele Arbeiter eingesperrt.

Auch für den faschistischen Hitler-Marionettenstaat war es ein paar Jahre später nicht einfach, in Tuzla Leute zu finden, die sich instrumentalisieren ließen. Gerade wegen des Einsatzes der Arbeiter in der Salzmine gelang es den Partisanen bereits am 2. Oktober 1943, die Stadt vom faschistischen Regime zu befreien – Tuzla wurde danach zum Zentrum des Widerstands gegen die Nazis in Bosnien. Und zehntausende Leute schlossen sich nach den Ereignissen in Tuzla dem Partisanenwiderstand an.

Arbeiteridentität und Internationalismus

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde neuerlich investiert – vor allem in Braunkohle. Die Ingenieure und Lehrer kamen aus ganz Jugoslawien. Und wieder wurde Tuzla der multikulturellste Ort des neuen Staates und immer mehr zur selbstbewussten Industriestadt. Mit der Industrialisierung kam auch die Bildung, die erste Fakultät wurde 1958 errichtet. "Auch das Theater hier hatte einen Ruf in ganz Jugoslawien", erzählt Vitomir Pavlović, ein ehemaliger Journalist, der ein Stadtchronist geworden ist.

"Nationale Identität war den Leuten nicht mehr so wichtig. Es ging ihnen darum, die Lebensqualität zu verbessern. Sie bildeten eine Arbeiteridentität mit einer soliden Basis für Internationalismus aus", erklärt Damir Arsenijević von der Universität Tuzla den Geist der Stadt. Zu behaupten, dass eine Familie wie die Zadićs aus Tuzla – der Hochburg der Sozialdemokraten im heutigen Bosnien-Herzegowina – einen islamistischen Background haben könnte, wie dies Rechtsradikale in Österreich taten, ist deshalb in etwa so einleuchtend, wie zu meinen, dass in Mürzzuschlag das Opus Dei dominiere.

Keinesfalls Nationalisten

In Tuzla gibt es die Anekdote, dass sogar die Diebe, die im Bosnien-Krieg in die orthodoxe Kirche einbrachen, danach bei der Polizei zu Protokoll gaben, dass sie keinesfalls Nationalisten seien und sicherlich nicht die Kirche zerstören, sondern nur den Rakija und die Würstel mitnehmen wollten. (Adelheid Wölfl aus Tuzla, 18.1.2020)