Foto: Klett-Cotta

Kommen wir zu einem der milde ausgedrückt raren Fälle, in denen das Erscheinen eines Buchs aus der Phantastik den deutschsprachigen Nachrichtenagenturen eine Meldung wert war. (Das gleiche gilt übrigens für den Comic-Sektor, der zu 100 Prozent aus "Asterix" besteht, wenn man nach APA und DPA geht ...)

Zwecks Einschätzung sei eines gleich vorneweg bekannt: Ich gehöre zu den vermutlich nicht sehr vielen Menschen, die das "Silmarillion" öfter gelesen haben als den "Herrn der Ringe". Es ist gerade dieses von vielen beklagte Kursorische, Unvollständige und manchmal auch Widersprüchliche, das das "Silmarillion" als Weltgeschichte von Arda so echt wirken lässt. Genau so sind die historischen Sagensammlungen, ob Edda oder griechische Mythologie, nämlich auch. J. R. R. Tolkien hat damit etwas geschaffen, das diesen "realen" Vorbildern tatsächlich ebenbürtig ist – also genau das, was er immer wollte. Und seinem Sohn Christopher kann man nur dankbar sein, dass er die aus unzähligen Einzeltexten und Fragmenten bestehende Sammlung überarbeitet und 1977 als Buch herausgegeben hat.

Der Plot

Eine der Geschichten aus diesem Sagenkreis ist die der Liebe zwischen dem Menschen Beren und der Elbin Lúthien, angesiedelt einige Jahrtausende vor dem Ringkrieg. Hier kurz, worum es geht: Als der verwaiste und mittellose Beren eines Tages Lúthien beim Tanz auf einer Waldlichtung erblickt, ist er augenblicklich hin und weg. Er stößt auch auf Gegenliebe – freilich nicht bei Lúthiens Vater. Dem Elbenkönig Thingol ist Beren zu minder, also verspottet er ihn, indem er ihm eine unmögliche Aufgabe auferlegt: Er soll als Brautgeschenk einen Silmaril, ein von Elben geschmiedetes Juwel, beschaffen, das nun Morgoth (gewissermaßen der Luzifer von Tolkiens Welt) in seiner Krone trägt. Zu diesem Zeitpunkt haben die drei Silmaril wie später die Ringe der Macht bereits großes Unglück über die Welt gebracht, und das wird sich in dieser Geschichte nahtlos fortsetzen.

Denn Beren nimmt Thingols Spott für bare Münze und zieht los, um den Silmaril zu beschaffen. Er gerät in die Gefangenschaft Saurons – damals noch bloß ein Diener Morgoths, des Ur-Bösen dieser Welt. Lúthien befreit ihn, und zusammen gelingt es ihnen tatsächlich, Morgoth einen der Silmaril zu stehlen; doch müssen sie dafür einen hohen Preis zahlen.

Edle Frauen

Für Tolkien war es die ultimative Liebesgeschichte, und das lag nicht unwesentlich daran, dass die später mehrfach in Liedern erwähnte Lúthien als die ultimative Frau dargestellt wurde. Sie passt in ein Muster, das man in Tolkiens Werk immer wieder findet: Seine Männer haben nämlich eine gewisse Tendenz, nach oben zu heiraten. Die Geschichte von Beren und Lúthien spiegelt sich später in der Liebe zwischen Aragorn und Arwen wieder – und ist ihrerseits das Echo einer Begegnung, die sich eine Generation zuvor und eine Ebene höher abspielte: Immerhin ehelichte Thingol der Elb mit Melian eine Maia, also eine niedere Gottheit.

Das läuft letztlich auf eine gewisse Idealisierung von Frauen hinaus. Und es ist auch kein Geheimnis, dass Tolkien viel von Lúthien in seine Ehefrau Edith Mary Bratt projizierte. Beziehungsweise umgekehrt; auf Ediths Grabstein ließ er den Namen "Lúthien" einmeißeln.

Versionen einer Geschichte

Diese Geschichte hat Tolkiens Sohn Christopher nun aus dem Kontext des "Silmarillion" herausgelöst und gibt im vorliegenden Band ihre Entstehungsgeschichte wieder; geschmückt mit Schwarz-Weiß-Zeichnungen und (sepia)farbigen Illustrationen von Alan Lee. Am Beginn steht eine bis in den Ersten Weltkrieg zurückreichende Urfassung, die "Geschichte von Tinúviel" (ein Beiname Lúthiens). Darauf folgen dann im Reißverschlusssystem skizzierte Passagen, Verse aus dem sogenannten "Leithian-Lied" und texthistorische Anmerkungen Christopher Tolkiens. Es ist keine auserzählte Geschichte wie Tolkiens spätere Werke. Immersion, wie sie "Hobbit", "HdR" oder selbst das "Silmarillion" in seiner gestreamlineten Form zulassen, ist dadurch natürlich nicht möglich. Man wahrt beim Lesen stets einen Außenblick.

Auch stilistisch ist das Ergebnis sehr wechselhaft. Die "Geschichte von Tinúviel" als einzige nicht unterbrochene Version wird in märchenhaftem Stil erzählt. Die Skizzen wiederum sind noch kursorischer als die Version im "Silmarillion" und die Verse des "Leithian-Lieds" ... nun ja. Lyrik zu übersetzen ist generell schwierig, insbesondere wenn die Vorlage Reimzwang vorgibt, was in Zeilen wie diesen münden kann: Sich selbst verfluchend hauchte graus / Gorlim zuletzt die Seele aus. Das wird definitiv nicht jedermanns Sache sein.

Wer bislang nur die "Silmarillion"-Version kannte, wird von der Urfassung überrascht sein. Nicht nur, dass Beren darin noch ein Elb ist – generell waren Begriffe wie Elben, Gnome oder Feen zu dieser Zeit bei Tolkien noch im Fluss. Und hier wird Beren auch nicht von Sauron gefangengehalten, sondern vom später gestrichenen Tevildo, dem Fürst der Katzen (ich wusste übrigens nicht, dass Tolkiens Elben Katzen genauso wenig mögen wie Spinnen, man lernt doch nie aus). Schon hier findet sich aber die denkwürdige Stelle, in der Beren Thingol den erbeuteten Silmaril präsentiert ... gewissermaßen. "Herr, in diesem Augenblick habe ich einen Silmaril in meiner Hand." "Dann zeige ihn mir", sagte der König verwundert. "Das kann ich nicht", sagte Beren, "denn meine Hand ist nicht hier"; und er streckte seinen verstümmelten Arm aus.

Aufarbeitung versus Neudichtung

Zurück zum Anfang: Sogar noch vor dem "Silmarillion" hatte ich seinerzeit David Days "J. R. R. Tolkiens fantastische Welt" ("Tolkien Bestiary") gelesen. Aufgebaut als illustriertes völkerkundliches Lexikon, veränderte es genauso wie das "Silmarillion" die Perspektive auf den "HdR" ganz gewaltig und machte deutlich, dass der Ringkrieg nur ein winziger Ausschnitt aus einer sehr viel längeren und ereignisreicheren Weltgeschichte ist. Diese beiden Werke stellten Ereignisse wie den Fall der Lampen oder den Krieg des Zorns gleichwertig neben den Ringkrieg und machten Persönlichkeiten wie Thuringwethil oder Ungoliant so konkret wie Baumbart oder Smaug. Und natürlich weckten sie damit den Wunsch, all das genauso ausführlich nachlesen zu können.

Allein, solche Epen hat es nie gegeben und wird es auch nie geben. Hoffentlich, muss man eigentlich sagen. Ob Brian Herbert seinem Vater Frank einen Gefallen erwiesen hat, indem er die "Dune"-Saga von anderen Autoren erweitern ließ, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Und spätestens die "Hobbit"-Filmtrilogie hat gezeigt, wie banal das Ergebnis sein kann, wenn sich jemand von geringerer Vision eines Stoffs annimmt, dem er nichts Adäquates hinzuzufügen hat.

Christoper Tolkien ist einen anderen Weg gegangen. Dieser Band als vermutlich letzte seiner Neueditionen bietet zwar keine einzige Seite an bislang unbekanntem Material, wie er im Vorwort selbst schreibt. Er ist jedoch für Fans und literaturwissenschaftlich Interessierte ein faszinierender Einblick in die Geschichte, die dem Vater der modernen Fantasy von allen am meisten am Herzen lag. Für Tolkien-Neulinge sei aber noch einmal ausdrücklich festgehalten: Dies ist nicht die Geschichte von Beren und Lúthien. Es ist die Geschichte der Geschichte von Beren und Lúthien.