Auf Amazon ist das Buch nur noch als Okkasionsexemplar für 350 Euro erhältlich. Es muss etwas für Liebhaber sein. Liebhaber von Minderjährigen, um genau zu sein. Les moins de 16 ans, zu Deutsch: "Unter 16", ist nur eines von mehreren Büchern, in denen Gabriel Matzneff seine sexuellen Vorlieben in aller Offenheit schildert. "Wenn Sie einen Jungen von 13 Jahren oder ein Mädchen von 15 Jahren in den Armen gehalten, geküsst, liebkost, besessen haben, kommt Ihnen alles andere fad, schwer, langweilig vor", liest man – und würde es gerne nie gelesen haben.

Sexreisen nach Asien

Vanessa Springora war 14, als sie Matzneff in die Fänge kam und seine "Geliebte" wurde. Die Depressionen und Albträume kamen erst später. Jetzt hat die Leiterin des Pariser Verlags Julliard selbst zur Feder gegriffen und einen aufwühlenden Bericht über die psychischen Folgeschäden pädophilen Missbrauchs verfasst. "Matzneff war kein guter Mensch", schreibt Springora in der Vergangenheitsform, obwohl der Autor noch in einer – von einem Politikerfreund zur Verfügung gestellten – Pariser Sozialwohnung lebt. "Er war das, wovor wir uns Kinder fürchten sollten: ein Oger, ein Menschenfresser."

Springoras Buch Le consentement ("Einwilligung") ist zu Neujahr erschienen und bereits ein Bestseller. Es zerreißt den Schleier, den die Pariser Literaturszene seit den 80ern über einen der ihren gehalten hatte. "Warum hat man über all diese Jahre nichts gesagt?", fragt die heute 47-jährige Autorin. Matzneff sei doch stets zu seiner Neigung für Minderjährige und seinen Sexreisen nach Asien gestanden.

Paradoxe Mixtur

Springoras "Warum?" hallt wie ein lauter Schrei durch Paris. Die Erklärung für die "kollektive Blindheit", wie es die Verlegerin nennt, ist wohl doppelt. Sie beruht auf einer sonderbaren, paradoxalen und sehr französischen Mixtur aus uralten höfischen Sitten und dem Geist des Mai ’68.

Wie einst am Königshof von Versailles durften die Pariser Eliten bis zu den MeToo-Zeiten so ziemlich alles, was Gott dem einfachen Bürger verboten hat. In den 1980er-Jahren galt das zum Beispiel für Seitenspringer wie François Mitterrand, dessen Hof um seine uneheliche Tochter Mazrine wusste, ohne dass ein Wort an die Medien gedrungen wäre.

Ideologisch bestätigt sah sich diese selbstgefällige sexuelle Aristokratie 1968 durch das philosophische Gebot, es sei "verboten zu verbieten". Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Roland Barthes unterzeichneten eine Petition für drei angeklagte Pädophile; Daniel Cohn-Bendit erklärte, er lasse sich von Kindern den Hosenlatz öffnen. In der Libération erschienen Kleinanzeigen zum "Kinderschmusen"; und Le Monde offerierte Matzneff, gedeckt von der Literaturpäpstin Josyane Savigneau, sogar eine monatliche Chronik von 1977 bis 1982.

Vanessa Springora schildert die Spätfolgen pädophilen Missbrauchs — dabei genoss der Autor Gabriel Matzneff bis in die 1990er-Jahre das Prestige eines Libertins.
Foto: APA/AFP/MARTIN BUREAU

Pro-Pädophilen-Petition von 1977

Als der pädophile Autor 1990 in die TV-Literatursendung Apostrophes eingeladen wurde, amüsierten sich die anwesenden Autoren wie auch der Sendeleiter Bernard Pivot über die beschriebenen Szenen mit "Schulmädchen". Nur die kanadische Schriftstellerin Denise Bombardier, die nicht mit den freien Sitten des Pariser Literaturbetriebs aufgewachsen war, hielt sich darüber auf. Der Schriftsteller und Journalist Jacques Lanzmann fand darauf, Matzneff hätte sie während der Sendung ohrfeigen sollen.

Der russischstämmige Autor erhielt noch 2013 den angesehenen Literaturpreis Renaudot und 2015 den "Preis des unkorrekten Buches". Dann änderten sich die Dinge aber auch in Paris schlagartig.

Libé-Chefredakteur Laurent Joffrin räumt heute mit einer gewissen Beschönigung ein, sein Blatt habe "eine gewisse Zeit gebraucht", um pädophile Schriften zu verurteilen. Der Ex-Minister Bernard Kouchner sagt, die von ihm mitunterzeichnete Pro-Pädophilen-Petition von 1977 sei rückblickend "schwer zu erklären": "Die Ideologien überschwemmten uns."

Matzneffs Verlag Gallimard, einer der angesehensten im frankophonen Raum, hat den Verkauf des Matzneff-Œuvres eingestellt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt, nachdem sie Springoras Werk nach eigener Darstellung "analysiert" habe. Matzneffs Tagebücher – deren Inhalt vom französischen Strafrecht schon vor dreißig Jahren verboten war – hatte sie offenbar nie gelesen.

Ewige Causa Polanski

Noch hat der russischstämmige Autor Fürsprecher. So twitterte Savigneau, die heute nicht mehr bei Le Monde tätig ist: "Ich ändere meine Meinung zu Matzneff nicht, nur weil die Hexenjagd begonnen hat." Damit meinte sie wohl den Paradigmenwechsel der MeToo-Debatte. Am Dienstag wurde in Paris auch der Filmregisseur Christophe Ruggia (55) verhaftet, nachdem ihn die Schauspielerin Adèle Haenel sexueller Übergriffe gegen sie bezichtigt hatte – zu einer Zeit, da sie zwischen zwölf und 15 Jahre alt war.

Einige Tage nach dem Aufbrechen der Affäre liest man auch differenziertere Kommentare. Der Schriftsteller Dominique Fernandez schrieb etwa in Le Monde: "Hüten wir uns davor, Werke der Vergangenheit anhand der moralischen Kriterien von heute zu beurteilen."

Unbehelligt und vom Pariser Kulturbetrieb weiter verteidigt bleibt in Frankreich der Regisseur Polanski (86). Die frühere Schauspielerin Valentine Monnier behauptete im November detailliert, sie sei von ihm mit 18 vergewaltigt worden. Frankreich hatte erst vor zwei Jahren ein Schutzalter von 15 Jahren eingeführt. Voraussetzung ist, dass der Täter "moralischen Druck oder Überraschung" anwendet. (Stefan Brändle aus Paris, 18.1.2020)