Hier wird (auch postdramatisch) Heiner Müllers Dramenbrühwürfel "Hamletmaschine" in Wohlgefallen aufgelöst: v. li. Marta Kizyma, Annámaria Láng, Max Gindorff.

Foto: Matthias Horn/Burgtheater

Prinz Hamlet, der ewige Thronfolger, dreht seine letzte Ehrenrunde. Im Kasino des Wiener Burgtheaters tritt er bescheiden durch ein dunkelrotes Plüschportal; ihn selbst schmückt ein Frotteebademantel. Der in unzähligen Bühnenschlachten ergraute Branko Samarovski gleitet in Pantoffeln sanft hinein in die "Hamletmaschine": Heiner Müllers neunseitiges Stück (1977) bildet bekanntlich den Rindsuppenwürfel der "postmodernen" Dramatik. In ihm aufgehoben ist die dialektische Beweiskraft vieler desillusionierender Jahrzehnte.

Der Befund auf der Warschauer-Pakt-Seite lautete: Auf die Tyrannenherrschaft der kommunistischen Partei soll der geläuterte Sozialismus sanftmütiger Kinder folgen. Die Westvariante tönte damals, im "Deutschen Herbst" mit RAF und Co., sogar noch nihilistischer. "Ekel" empfindet das revolutionäre Subjekt, sobald es in den Einkaufszentren die "Gesichter / Mit den Narben der Konsumschlacht" sieht. Weder kann Hamlet den Mord am Vater rächen. Noch aber ist er fähig, in den "Schrei nach dem Sturz der Regierung" guten Gewissens einzustimmen. Das Ergebnis: Selbstlähmung durch Entgeisterung.

Eine Shakespeare-Essenz

Müller (1929–1995), einst der wichtigste deutschsprachige Stückeschreiber, zog aus Shakespeares Tragödie unerbittlich die Essenz. Gewiss, etwas mag faul sein im Staate Dänemark. Doch um wie vieles fauliger ist ein Denken, das sich von den Widersprüchen der Geschichte ins Bockshorn jagen lässt.

In kein noch so geringes Horn lässt sich Regisseur Oliver Frljić treiben. Samarovski hat die weltberühmten Eingangssätze des Dramas ("Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA…") mit Kostproben des Müller-Stückes "Leben Gundlings" vermengt.

Ein Koloss von Schauspieler (Marcel Heupermann) zieht einen Sarg auf die Bühne. Eine verstörte, junge Frau (Marta Kizyma) rekapituliert das Geschehen aufgeregt. Müllers Sätze bewirken lauter Kurzschlüsse des Denkens und Handelns. Insgesamt drei Mal durchläuft das fünfköpfige Ensemble das rätselhafte Geschehen. An Papas Sarg, weiß Hamlet, kopuliert die Witwe (seine Mutter) mit dem Onkel. Vor allem aber treibt jede(r) es mit jedem. Man gewinnt nicht den Eindruck, dass eine solche Form der Gedankengymnastik besonderen Spaß macht.

Der Kroate Frljić besitzt die unheilvolle Tendenz, zeichentheoretische Fragen durch den möglichst unverfrorenen Zugriff auf verschwiegene Körperpartien beantworten zu wollen. Doch was soll man sagen: Diesmal trifft er damit ins Schwarze. Der Co-Gestalter der Burg-Reihe "Europamaschine" nimmt seinen Müller beim Wort. Und enttarnt das von Prätention nicht ganz freie (wiewohl herrliche) Versgeklingel des Autors als Deckbehauptung.

Das Opfer Ophelia

Geschützt wird durch das Vorgaukeln von hoher Politik die vermeintlich niedere Sphäre: die der Reproduktion. Ausgebeutet wird – nicht erst in Gestalt der armen Ophelia – der Körper der Frau. Sie, die "der Fluss nicht behalten" hat, kehrt wieder als der gleichsam unerledigte "Rest".

Frljić besetzt mit instinktiver Richtigkeit den blinden Fleck aller Repräsentation. Im Sarg liegt eine täuschend todesechte Attrappe eines ausgewachsenen Hausschweins. An ihm, an seinem "Gedächtnis", vergehen sich die Darsteller, teils nackt, auf Krawall gebürstet. Bereit, sich den Mund verbieten zu lassen und den Schoß zuzunähen (Annámaria Láng).

Aus Helsingör wird irgendwann Budapest, der Revolutionsschauplatz von 1956. Samarovski ist die bezauberndste Ophelia der Welt, gehüllt in Österreichs Fahne. In einem dritten, unüberbietbaren Durchgang bemächtigt sich der tobende Heupermann des gesamten Textes. Das papierene Konterfei seines Regisseurs hat er sich zu diesem Zeitpunkt in den Anus gestopft. Im Fleisch soll das Wort wiedererstehen! Die Hoffnung auf ein Europa ohne Orbán und Konsorten stirbt zuletzt. Und während Hamlet das Schwein penetriert, zuckt das Stück von Heiner Müller wie ein galvanisierter Frosch. Müller-Spielen ist nicht nur notwendig, sondern möglich. Diese Einsicht verdanken wir jetzt auch Oliver Frljić. Chapeau! (Ronald Pohl, 19.1.2020)