Im Gastkommentar bewertet die Pflegewissenschafterin Hanna Mayer das Regierungsprogramm zum Thema Pflege. Einer Pflegelehre steht sie skeptisch gegenüber. Als Maßnahme gegen Ärztemangel würde niemand "Medizin als Lehrberuf" vorschlagen, so Mayer, bei der Pflege hingegen schein jedes Mittel recht.

Es ist sehr wohltuend zu sehen, dass die neue Regierung einen Schwerpunkt auf die Pflege legt. In einigen Punkten ist sie sogar mutiger als bisherige, dennoch geht es im türkis-grünen Regierungsprogramm auch wieder um viele Einzelmaßnahmen. Die Gesamtvision, die darüber liegen sollte, ist (noch?) nicht zu erkennen.

Sozialminister Rudolf Anschober will einen Österreich-Dialog zur Pflege starten. Vergangene Woche stand, gemeinsam mit Kanzler Sebastian Kurz, erst einmal ein Besuch im Pflegeheim an.
Foto: Heribert Corn

Die zentrale Grundlage einer bedarfsgerechten Finanzierung, die längst reformbedürftig ist, wird diesmal endlich angesprochen: die Einschätzung des Pflegebedarfs. Hier soll es eine "Neubewertung der Einstufung" mit mehr Augenmerk auf den Pflegebedarf bei Menschen mit Demenz, sowie eine "Weiterentwicklung des Einstufungsprozesses" geben. Bei all diesen noch vage formulierten Punkten bleibt zu hoffen, dass die geplante "Entwicklung eines Pflegegeldsystems, in dem alle Bedarfe berücksichtigt sind", leitend sein wird. Denn in Österreich fehlt die wichtigste Grundlage für ein modernes Einstufungssystem: die theoretische Fundierung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs, die Ableitung des Pflegebedarfs daraus und darauf aufbauende, treffsichere Bewertungsinstrumente. Dies zu ignorieren würde bedeuten, das Haus ohne tragfähiges Fundament zu bauen.

Keine "Schmalspur"-Nurse

Dass man nun endlich plant, die Rolle einer Community-Nurse einzuführen, ist – vorausgesetzt, man macht es richtig – eine für das Gesundheitssystem besonders wichtige Maßnahme. Hier kann ein niederschwelliges Angebot entstehen, von dem nicht nur pflegende Angehörige profitieren, sondern auch chronisch kranke Menschen, Personen, die nach schweren Eingriffen aus dem Spital entlassen werden, oder Krebskranke. Eine Community-Nurse ist jedoch immer in ein pflegezentriertes Versorgungssystem eingebettet – und es bleibt zu hoffen, dass dies mitgedacht und -entwickelt wird.

Eine Community-Nurse braucht außerdem eine Spezialisierung im Bereich "Advanced Nurse Practice", also eine Ausbildung auf Masterniveau. Es wäre an der Zeit, diesen Beruf, der in vielen anderen Ländern eine wesentliche Stütze des Gesundheitssystems ist und der viele andere Berufsfelder wie School-Nurse oder Cancer-Nurse eröffnet, endlich auch in Österreich einzuführen. Doch leider ist im Regierungsprogramm davon keine Rede. Vor der Idee, eine Art österreichische "Schmalspurversion" der Community-Nurse einzuführen, ist dringend zu warnen.

Eine Pflegelehre?

Die Ausbildung für die Pflegeassistenzberufe zukünftig im Regelschulsystem anzusiedeln ist denkbar und im Sinne der Durchlässigkeit im Bildungssystem nicht ganz von der Hand zu weisen, auch wenn es triftige Gründe dagegen gibt – in erster Linie das junge Alter. Es wird aber weiterhin auch einen anderen Zugang zum Beruf der Pflege(fach)assistenz brauchen. Denn gerade die Zielgruppe der Erwachsenen, die sich auf erstem oder zweitem Bildungsweg dazu entschließt, sollte man hinsichtlich der kommenden geburtenschwachen Jahrgänge, ansprechen. Die Idee, parallel dazu noch eine Pflegelehre einzuführen, also einen dritten Strang, ist weder bildungspolitisch noch berufspolitisch und schon gar nicht angesichts der komplexen und anspruchsvollen Aufgaben in der Pflege sinnvoll. Kein Mensch käme auf die Idee, einen drohenden Ärztemangel mit der Maßnahme "Medizin als Lehrberuf" lösen zu wollen. Bei der Pflege scheint jedoch jedes Mittel recht.

Dass kein Wort darüber verloren wird, mehr Fachhochschulstudienplätze zu schaffen, um die Zahl der Personen im gehobenen Dienst der Gesundheits- und Krankenpflege zu erhöhen, sowie Maßnahmen zu setzen, Maturantinnen und Maturanten für den Beruf zu begeistern, stimmt genauso bedenklich wie die Tatsache, dass zwar von einer Kompetenzerweiterung des gehobenen Dienstes gesprochen wird, aber nicht von weiterführenden Ausbildungen im Bereich der "Advanced Nurse Practice". Dies in Kombination mit der Schwerpunktsetzung auf den Ausbau und die Kompetenzerweiterung der Assistenzberufe deutet auf einen gefährlichen Trend hin. In Zukunft könnte der größte Teil der Pflegeleistung vermehrt auf immer jüngere Menschen und Personal in niedrigeren Qualifizierungsstufen verlegt werden. Das mag zwar zu geringeren Kosten führen, bedeutet aber eine Deprofessionalisierung der Gesundheits- und Krankenpflege und lässt angesichts internationaler Studien, die einen Zusammenhang zwischen Ausbildungsgrad, Alter und pflegespezifischen Ergebnissen bei den Patienten zeigen, die Alarmglocken läuten.

Umfassende Reform

Die Problemstellungen rund um das Thema Pflege sind komplex, ineinander verwoben und müssen daher systematisch bearbeitet werden: Welches Versorgungssystem ist geeignet, um aktuellen und zukünftigen Herausforderungen zu begegnen? Welche Rolle kann/soll und muss Pflege darin spielen? Welche (neuen) Rollen in der Gesundheits- und Krankenpflege braucht es, damit das System gut funktioniert? Welche gesetzlichen und strukturellen Rahmenbedingungen sind dafür nötig? Welche Kompetenzen brauchen diese Personen? Wie müssen sie ausgebildet sein?

So gut manche Einzelmaßnahmen im türkis-grünen Regierungsprogramm sind und sosehr man Versuche erkennt, eine allzu konservative Handschrift hinter sich zu lassen – bei den Einzelmaßnahmen darf es nicht bleiben. Die Politik muss Gesundheits- und Krankenpflege als einen – nicht nur zahlenmäßig – zentralen Player im Gesundheitssystem erkennen und das volle Potenzial in einer umfassenden Reform ausschöpfen. (19.1.2020)