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Erkenntnis wurde mit Helligkeit assoziiert. Heute ist es schwer, der Nacht zu frönen. Hier die Skyline von Hongkong.
Foto: REUTERS/Lucy Nicholson

Auch wenn die moderne Zivilisation die Nacht immer mehr zum Tag macht – in der Kultur und Geistesgeschichte hatte und hat die Finsternis viele Anhänger. In ihr treffen das Imaginäre, der Traum, der Rausch und die Trance auf ein anderes Bewusstsein – und auf die Vernunft, die aus dem Dunkeln kam.

Der Wechsel von Tag und Nacht bestimmt unser Leben nachlassend, fast kaum noch merklich", schrieb der Philosoph Hans Blumenberg in seinem Buch Die Vollzähligkeit der Sterne. Er war selbst ein ausgesprochener Nachtarbeiter, er las dann und exzerpierte, vor allem aber diktierte er seine langen Theorieromane in ein Aufnahmegerät, von dem ausgehend tagsüber eine Schreibkraft Abschriften herstellte. Die elementaren Naturtatsachen waren für Blumenberg immer ein wichtiges Motiv des Denkens, und so stellte er an dieser Stelle Überlegungen über "Die Schwärze des Nachthimmels"an.

Warum erscheint uns der Himmel schwarz, wo wir doch heute wissen, dass es da draußen eine unendlich scheinende Anzahl von Sternen gibt? Müsste nicht irgendwann so viel Licht von ihnen auf der Erde eintreffen, dass es hier nicht mehr dunkel wird?

Blumenbergs Erfindung

Hans Blumenberg erfand dafür einen Begriff. Er sprach von "Lichtverdichtungsende", und man kann sich förmlich vorstellen, wie er eines Nachts in sich hineingelacht hat, als ihm dieses Wort eingefallen ist. Er wusste ja auch, dass dieses Ende zwar niemals vollständig erreicht werden würde, dass aber die menschliche Zivilisation eine Tendenz in sich trägt, der Nacht ihr Recht zu beschneiden. Von Goethes angeblichen letzten Worten "mehr Licht" bis zu der Stadionbeleuchtung, die vor Weihnachten kurz ein Schlaglicht auf die Koalitionsverhandlungen warf, führt zwar kein direkter Pfad, aber doch eine Tendenz: In den modernen Gesellschaften wird es nicht mehr richtig finster.

Damit gehen Verlusterfahrungen einher, denn die Nacht hatte und hat in der Kultur- und Geistesgeschichte zahlreiche Anhänger. Zu diesen Adepten des Nokturnen zählt zum Beispiel Elisabeth von Samsonow, Philosophin und Künstlerin, Professorin an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Sie beschäftigte sich in einer Vorlesung mit dem Wechsel von Schlaf und Wachzustand, der ursprünglich dem Wechsel von Nacht und Tag entspricht, sich davon aber zunehmend entkoppelt hat.

In der Nacht rühren wir an das, was der Philosoph Schelling den "Ungrund" genannt hat – eine andere Welt und auch ein anderes Wissen. "In der Philosophiegeschichte wurde Erkenntnis immer mit Helligkeit assoziiert", so Elisabeth von Samsonow im Gespräch mit dem STANDARD. "Das ist eine anthropologische Konstante. Öffentlichkeit ist um Helligkeit und Tag organisiert, der Rest gehört irgendwo anders hin, und nun geht vieles dahin, diese Öffentlichkeit auszuweiten."

Die Künstlerin und Philosophin Elisabeth von Samsonow spürt dem Wechsel von Hell und Dunkel nach.
Foto: Corn

Man kann diese Veränderung auch als eine Abkehr von der Natur begreifen, denn, so von Samsonow, "die Organismen, die diese Erde birgt, sind alle dadurch definiert, dass sie Hell und Dunkel unterscheiden können. Das gesamte organische Leben in dieser Biosphäre ist um diese Unterscheidung organisiert."

Es muss also nicht verwundern, dass diese Unterscheidung viele Entsprechungen hervorgebracht hat. Der Übergang von der Weimarer und Berliner Klassik zur Romantik etwa ist stark von Aspekten des Nächtlichen geprägt. Wo sich das eine Modell stark an der Helligkeit einer idealisierten Antike und ihren Idealen von Transparenz und Harmonie orientierte, setzten die Romantiker dagegen wieder stärker auf das Imaginäre und auch auf eine Vernunft, die beide aus der Dunkelheit kamen.

Höheres, göttliches Bewusstsein

Die Übergänge sind klarerweise fließend, wie sie es ja auch zwischen Tag und Nacht und zwischen den Jahreszeiten sind. Aber in den Nachtgesängen von Hölderlin zeigt sich eben auch eine andere, geheimnisvollere Antike, also wieder ein Gegenbild. Und es passt nur zu gut, dass ein zeitgenössischer Kritiker Hölderlin mit dem Verdikt "dunkel" belegte. Bis heute gilt etwas als "dunkel", wenn es sich dem (leichten oder klaren) Verständnis entzieht.

Elisabeth von Samsonow hingegen zählt zu denjenigen, die genau diesen Dunkelheiten nachspüren. "Menschen sind die Tiere, die den Wechsel von Licht und Dunkel kulturell organisieren, die fast eine transzendentale Poetik dafür schaffen. Die längste Zeit, also fast 5000 Jahre, gab es eine produktive Oneirokritik, die diesem Bruch nachdachte: Man wird in der Nacht von sich fortgerissen und hineingerissen in das Bewusstsein, das einen umfängt. Nach allen Deutern ist das ein höheres, ein göttliches Bewusstsein. Es gibt eine Kirche in Rom, die sich einem Traum verdankt. Jemand meinte, auf diese Weise einen Wunsch der Gottesmutter zu empfangen, das kam bis vor den Papst, und so wurde eine Kirche gebaut. Heute wäre das unvorstellbar. Träumen Sie einmal etwas, was Sie dann der Regierung vorschlagen, und die sagt dann vielleicht sogar noch: Ja, das machen wir."

Die Angst vor dem Kontrollverlust

Für eine ordentliche Pensions- oder Pflegereform müssten wahrscheinlich schon ein paar Verhandlungsgruppen in eine längere Nachtklausur gehen, sie müssten sich dabei aber von den Techniken fernhalten, mit denen heute der Nacht das Nächtliche ausgetrieben wird. "Der größte Teil der Drogen geht in Richtung Aufputsch. Es gibt einen Protest gegen den Sturz ins Dunkle, eine Furcht vor dem Einschlafen und vor dem Kontrollverlust. Es wäre eine Lektion und eine Leistung, diesen Kontrollverlust zu begrüßen." Elisabeth von Samsonow spinnt den Gedanken weiter: "Fast alle minoritären Kulturen haben eine Trancepraxis, kennen also Zustände und führen solche herbei, in denen man nicht mehr verfügbar ist. In unseren Breitengraden gibt es den Rausch, aber es gibt keinen Raum mehr, in den man sich hineinberauscht. Damit bleibt also nur so etwas wie Komasaufen, ein Rausch in Richtung Anästhesie."

Dagegen hielt der russische Philosoph Nikolaj Berdjajew ein Denken, das aus der Bewusstlosigkeit erlösen sollte, in dem es in die Nacht zurückging. Motive aus der deutschen Romantik werden bei Berdjajew geschichtstheoretisch gewendet und ermöglichen ihm so eine positive Rede von einem neuen Mittelalter. In dieser Epoche könnte Europa an einem neuen Russland genesen, indem es sich von einer linearen Geschichte abwendet und wieder einen Wechsel von Tag und Nacht zuließe. Man könnte auch sagen: eine Dialektik der Aufklärung. Für Berdjajew ist die Nacht eine "Stunde unsagbarer Sehnsucht", man erkennt darin die "Urbasis des Lebens".

Für den russischen Philosophen Nikolaj Berdjajew ist die Nacht eine "Stunde unsagbarer Sehnsucht".
Foto: Imago

Dagegen sieht Elisabeth von Samsonow die Nacht heute vor allem unter dem Druck einer Kolonisierung. "Ich sehe einen Zugriff auf den Schläfer, auf den, der die ganze Nacht unproduktiv herumliegt und es sich erlaubt, sich so lange der Überwachbarkeit zu entziehen. Heute ist der luzide Traum sehr wichtig, man versucht, das Träumen für die Selbstoptimierung zu nützen. Man übt das, was man am Tag besser können soll, in der Nacht. Dahinter steht die Fantasie von Produktivitätssteigerung."

Es ist auch nicht nur das "mantische Regime" (von Samsonow) einer anderen Vernunft aus dem Kontakt mit einem nächtlichen, überindividuellen Bewusstsein, das es zu retten gilt. Die Nacht macht auch all das grau, was in der technischen Zivilisation zunehmend dem Zugriff von Kameras und anderen Aufzeichnungsapparaten unterliegt. Wobei sich hier auch zeigt, dass das Licht längst auf die Seite der Apparate gewechselt ist: Auch im Dunkeln sind Körper heute leicht zu erkennen, aber eben nicht immer so leicht zu identifizieren. Man mag darin einen Rest von dieser Idee erkennen, dass die Menschen am Tag individuell sind, in der Nacht aber ein großer Verbund.

Der berühmte Satz von Joseph Conrad ("Wir leben, wie wir träumen: allein") bedürfte auf jeden Fall einer Neubewertung. Vielleicht findet sich dazu ja im Nachlass von Hans Blumenberg noch etwas. (Bert Rebhandl, 22.1.2020)