Der junge Mann am Eingang lässt sich nicht erweichen. "Nein, tut mir leid, aber wenn Sie einen Tisch für vier brauchen, einstweilen aber nur zu zweit sind, können Sie nicht am Tisch auf die anderen zwei Personen warten", sagt er und versperrt demonstrativ den Weg in den Speisesaal, "dann müssen Sie schon weiter in der Schlange stehen." Die hat sich innerhalb einer halben Stunde in der Länge verdoppelt und zieht sich inzwischen bis um die Ecke.

Speisen wie anno dazumal: das Restaurant Bouillon Pigalle im ehemaligen Rotlichtviertel von Paris.
Foto: Benoit Linero

Der gewaltige Andrang gilt dem Bouillon Pigalle, einem der angesagtesten Lokale der französischen Hauptstadt. Ende 2017 wurde es mitten im Zentrum des einstigen Rotlicht- und Strizziviertels eröffnet, dessen weltverrufenen Namen es trägt. Geöffnet ist täglich von Mittag bis Mitternacht, Reservierungen für die 320 Sitzplätze werden keine angenommen. Deswegen muss hier vor allem lange Schlange stehen, wer uninspiriert genug ist, um gegen 13 oder 21 Uhr zu kommen, wenn die meisten Pariser ihre Mahlzeiten einnehmen.

Niedrige Preise

Auf ersten Blick scheint klar, worauf der durchschlagende Erfolg des Bouillon Pigalle beruht. Nämlich auf den für die glamouröse Hauptstadt geradezu lächerlich niedrigen Preisen. Vorspeisen kosten fast durchwegs unter fünf Euro, die meisten Hauptspeisen unter zehn. Dafür bekommt man einfach-ehrliche Pariser Hausmannskost, wie etwa vorweg (Bio-)Mayonnaise-Eier (€ 1,90), Markknochen (€ 3,90) oder gratinierte Zwiebelsuppe (€ 3,80). Und danach Bœuf bourguignon (€ 9,80), Kalbsblanquette mit Reis (€ 10,50) oder Brandade de Morue (gratiniertes Stockfisch-Erdäpfelpüree, € 9,20).

Dazu gibt es handwerklich erzeugtes Sauerteigbaguette sowie äußerst schüttfreudige Weine, die Flasche um 9,90 Euro. Und zum Abschluss Éclair au Chocolat (€ 2,90) oder Tarte Tatin (€ 3,60). Das alles hausgemacht, durchaus befriedigend und nach dem Lehrbuch zubereitet. Und wenngleich klar ist, dass man diese und ähnliche Gerichte andernorts in Paris besser isst, billiger bekommt man sie kaum wo.

Und dennoch liegt es nicht ausschließlich am exzellenten Preis-Leistungs-Verhältnis, wenn heute le Tout-Paris nach Pigalle strömt. Da wäre zudem auch noch das nostalgiegeprägte Retrokonzept, das sich allein schon in der Bezeichnung "Bouillon" ausdrückt. Darunter nämlich versteht man einen Restaurant-Typus, von dem es im Paris des 19. Jahrhunderts nur so wimmelte.

Das Bouillon Pigalle bietet einem Bouillon entsprechend ehrliche Pariser Hausmannskost.
Foto: Bouillon Pigalle

In einem Bouillon bekam man nicht nur die namensgebende kräftige Rindsbrühe, sondern auch traditionelle Kost, schnell serviert und zu äußerst günstigen Preisen. Von den 250 Betrieben dieses Typs, die es in Paris einst gegeben haben soll, überlebte nur ein einziges: nämlich das legendäre Bouillon Chartier in der Rue du Faubourg-Montmartre, unweit der Oper. Doch hat die Eröffnung des Pigalle einen regelrechten Boom ausgelöst.

Das Bouillon und sein zweiter Frühling

In den letzten Monaten wurden gleich mehrere Bouillons eröffnet beziehungsweise wiederbelebt, einige davon in prachtvollen Räumlichkeiten und Rahmen aus der Zeit der Belle Époque oder des Art nouveau, also des Pariser Jugendstils. Darunter etwa das Bouillon Julien, Le Petit Bouillon Pharamond oder das Bouillon Chartier Montparnasse, ein Ableger des bereits genannten. Im Pigalle indessen ist das Interieur zeitgemäß gestaltet, wenngleich auch hier auf klassische Pattern zurückgegriffen wird.

Davon kann man sich überzeugen, wenn die Gesellschaft endlich vollzählig ist und der strenge junge Mann vom Eingang einen zum Tisch führt. Man sitzt, wie es sich für Paris gehört, gedrängt, auf langen roten Bänken und unter praktischen Hut- und Mantelablagen. Die Atmosphäre ist ausgelassen, der Lärmpegel im knackvollen Lokal naturgemäß hoch, allerdings entsprechend stimmig. Der flinke und entgegen üblichen Paris-Klischees freundliche Service trägt – auch das, wie es sich für die Kapitale gehört – lange weiße Schürzen und Rondins, also enge schwarze Gilets mit vielen kleinen Taschen dran.

Das Bouillon Chartier ist das einzige Bouillon, das seit den 1850er-Jahren besteht.
Foto: Bouillon Pigalle

Rahmen, Stimmung und Küche treffen offenbar den nostalgischen Nerv auch der jüngeren Generation. Anstatt für Burger und Bowls, für Quinoa und Yuzu kommt man her, um die Gerichte seiner Großeltern zu essen. Vermutlich aber ebenso, um virtuell zu verreisen in ein Frankreich der 1960er-Jahre, wie man es sich als Hipster so vorstellt.

Nämlich noch frei von Convenience-Produkten und Fast-Food-Buden. Von den Pariser Bistronomie-Lokalen, jenen inzwischen zahlreichen angesagten Restaurants also, die gehobene Gastronomie mit der Schlichtheit des Bistros vereinen (Bistro + Gastronomie = Bistronomie), unterscheiden sich die Bouillons ganz wesentlich.

Während es in der Bistronomie um die Kreativität, die eigene Handschrift und somit die Persönlichkeit des Kochs geht, tritt das in einem Bouillon alles in den Hintergrund. Hier beschränkt sich die Aufgabe des Küchenchefs in erster Linie darauf, die Kochbrigade (im Pigalle arbeiten 25 (!) Köche) mit Präzision und Effizienz zu führen, seine Klassiker zu beherrschen und in annehmbarer Qualität sowie im großen Stil zu reproduzieren.

Verlangt sind folglich handwerkliches Können und persönliche Zurückhaltung – beides wohl kaum Attribute, die Starruhm und Medienpräsenz versprechen, nach denen so viele junge Köche heutzutage streben. Zudem ist schwer vorstellbar, dass andernorts als in Paris sich überhaupt kompetentes Personal in ausreichender Anzahl findet, wie es für ein Lokal dieses Typs und dieser Größe erforderlich ist.

Brühwarm erzählt

Von einem klassischen Pariser Bistro indessen unterscheidet sich das Bouillon allein schon durch seine Größe und die Standardisierung des Angebots. Interessant ist allerdings, dass auch der Begriff Restaurant einst eine Art Bouillon, also eine Brühe, bezeichnete. Sie sollte den Gast "restaurieren", ihn also kräftigen und gewissermaßen wieder aufrichten. Entstanden sind die ersten Restaurants in Paris in den Jahren vor der Französischen Revolution und somit circa hundert Jahre früher als die Bouillons.

Foto: Bouillon Pigalle

Ursprünglich verkauften sie tatsächlich ausschließlich die namensgebende Rindsbrühe, bis ihre Betreiber das Angebot erweiterten und der Begriff sich schließlich auf jede Art von Gasthaus ausweitete. Am ehesten zu vergleichen ist das Bouillon mit einer Brasserie, von der es sich jedoch durch die niedrigen Preise und die bescheideneren Zutaten unterscheidet.

Genau wie das Bouillon ist auch die Brasserie ein typischer Lokaltypus aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Nach der Niederlage Frankreichs gegen die Preußen und dem damit einhergehenden Verlust Elsass-Lothringens emigrierten zahlreiche frankreichtreue Elsässer nach Paris und eröffneten hier Braugasthöfe (Brasserie = Brauerei).

Expansion

Im Laufe der Jahre trat das Bier in den Hintergrund, die Brasserien verbürgerlichten sich. Heute bieten sie neben den Klassikern, die man auch in einem Bouillon findet, wie etwa Kalbskopf mit Sauce Gribiche aus harten Eiern, auch Choucroute garnie (eine Art elsässischer Bauernschmaus) oder Entrecôte mit Pommes frites. Aber außerdem, und ganz im Unterschied zum Bouillon, auch Meeresfrüchte-Plateaus, Fisch- und Hummergerichte, Gänseleber und eine umfangreiche Weinkarte.

Eine solche Brasserie, nämlich die Chez Jenny nahe dem Place de la République mit ihren 420 Sitzplätzen und der Innengestaltung aus dem Jahr 1932, haben kürzlich die Macher des Bouillon Pigalle übernommen. Bald wird hier das Bouillon République eröffnet. Kein Zweifel, dass die Pariser auch dieses Bouillon stürmen werden. Und genau wie in Pigalle wird es ihnen dabei weniger um die Exzellenz der Küche gehen als viel mehr darum, eine gesellige Zeit zu verbringen und ihre Stadt zu feiern.

Die ist nämlich nicht nur der Geburtsort der Institution des Restaurants, sondern auch jene Stadt, in der das gemeinsame Essengehen und der Restaurantbesuch zelebriert werden wie in keiner zweiten. (Georges Desrues, 2.2.2020)