Thomas Strasser studierte Physik und PPP (Philosophie, Pädagogik und Psychologie) an der Universität Wien und kam 2003 im Rahmen eines Austauschprogramms für österreichische Lehrer nach New York. Seinen Zivildienst absolvierte er als Gedenkdiener in Auschwitz und er hilft bei der Koordination eines Stammtisches für deutschsprachige Holocaust-Überlebende, der seit 1943 wöchentlich in Manhattan stattfindet. Strasser hilft jede Woche der Gastgeberin, einer 94-jährigen ehemaligen Wienerin, bei den Vorbereitungen und dem Aufräumen. 

DeWitt Clinton High School in der Bronx

Seine ersten acht Jahre in New York unterrichtete Strasser an der DeWitt Clinton High School in der Bronx. Sie war Anfang der 2000er-Jahre mit fast 5.000 Schülern die drittgrößte Schule der Stadt und im ärmsten städtischen Kongressbezirk der USA gelegen. 90 Prozent der Schüler hatten Migrationshintergrund, waren gerade aus der Dominikanischen Republik, Mexiko oder Puerto Rico angekommen. "Die ahnungslosen österreichischen Junglehrer wurden in die schwierigsten Schulen geschickt, in die sonst niemand wollte. Es war ein kompletter Kulturschock für die meisten. Zu Weihnachten gab es dann jedes Jahr ein riesiges Turnover. Viele gaben auf und brachen ihren USA Aufenthalt ab."

Nicht so Strasser. Er genoss seine Unterrichtsjahre dort und lernte viel. "Ich merke, dass das vielen Lehrern fehlt, diese Erfahrung, wenn sie nur die Eliteschulen und Topschulen kennen. Die Lehrer können zum Teil mit den schwierigeren Kindern nicht umgehen."

Während der ersten Jahre florierte die Schule. Strasser baute ein sehr erfolgreiches Physikprogramm auf und einige Jahre lang konnte er sogenannte Advanced Placement Kurse (auf College-Niveau) anbieten, was für eine Schule wie diese sehr ungewöhnlich war. "In New York herrschen weniger bürokratische Zwänge. Man kann sowas aufbauen, auch als junger Lehrer. Die Schüler waren begeistert und haben alles wie Schwämme aufgesogen. Die Kinder, die Physik gewählt haben, wussten, dass Bildung wichtig ist. Sie hatten die Motivation und das Interesse. Sie waren mental ausgehungert, weil sie vom Lehrplan nicht genug stimuliert wurden und das Niveau sonst sehr schlecht war. In Physik war das anders und das Niveau war höher."

Nach 2008 führten allgemeine Veränderungen im New Yorker Schulsystem wie die Schaffung von Charter-Schulen zu einer rapiden Verschlechterung der DeWitt-Clinton-Schule. Bessere Schüler wurden in kleinere neue Schulen abgezogen. Es blieben nur mehr die Problemschüler übrig. "Ab 2008 war das ganz massiv. Jedes Jahr sind mehr und mehr schwierige Schüler in die Schule gekommen.Viele konnten kein Englisch und waren auch in ihrer Muttersprache nicht alphabetisiert. Einige kamen aus Kriegsgebieten." Jedes Jahr wurde das Niveau schlechter. In seinen letzten beiden Jahren wurde das AP-Programm wieder abgesetzt. Gewaltbereitschaft und Interessenlosigkeit der Schüler stiegen an.

Graduation Day in den USA.
Foto: Keith Bedford / Reuters

Unvorstellbare Gewalt

Gewalt war in und um die Schule allgegenwärtig, vor allem zwischen Banden, und die Zwischenfälle häuften sich, je weiter das Niveau abrutschte. "15-Jährige machten auf Gangster", sagt Strasser. Brutale und blutige Zwischenfälle waren an der Tagesordnung, und das, obwohl Bandenabzeichen in der Schule verboten waren und die Schüler die Schule durch Metalldetektoren betreten mussten. Im Schulgebäude dienten Flaschen oder Stühle als Waffen. Bewaffnete Raubüberfälle, (versuchte) Vergewaltigungen, Messerstechereien, Autodiebstahl oder Brandstiftung kamen sowohl in der Schule als auch außerhalb regelmäßig vor. "Ich verlor einmal ein Klassenzimmer, weil es in Brand gesteckt wurde und eine Wand komplett niederbrannte.", erinnert sich Strasser. In einer schulnahen U-Bahn-Station wurden Schüler mit Macheten wüst zugerichtet. Den Lehrern gab man die Anweisung, in solchen Situationen niemals dazwischen zugehen, sondern immer die Security zu holen.

Kurz nach Strassers Ankunft in der Schule wurde ein junger Bursche direkt vor der Schule erschossen. Auf einer Abwesenheitsentschuldigung einer Schülerin, die sich Strasser aufgehoben hat, stand: "Please excuse my daughter for being absent. She could not attend due to the ….murder of that boy."

Entschuldigung, die sich Strasser aufgehoben hat.
Foto: Stella Schuhmacher

Direkt vor Strassers Klassenzimmer befand sich ein Bandentreffpunkt, weil es hier mehrere Fluchtmöglichkeiten in alle Richtungen gab. Häufig fielen sich prügelnden Schülergruppen durch die Tür in seine Klasse. Manchmal konnte er das Sicherheitspersonal vorab rufen, weil er ahnte, dass sich eine Prügelei anbahnte. 

Sein letztes Jahr an der Schule war "wüst", wie er sagt. Im Oktober fand ein Schüleraufstand statt, bei dem die Schule komplett die Kontrolle verlor. "Es war ein regnerischer Tag und die Kinder haben in der Cafeteria gewartet. Zunächst hat es mit dem Herumschmeißen von Essen begonnen und wandelte sich dann mit Hilfe von Regenschirmen in einen ausgewachsenen Kampf zwischen Bandenmitgliedern, der auf alle Kinder übergeschlagen hat. Die Schule hat damals völlig die Kontrolle verloren, Hunderte sind durch die Schule gezogen und haben an Wände gehämmert. Die Lehrer haben sich in Klassenzimmern eingeschlossen. Wie durch ein Wunder gab es nur ein paar leichte Verletzte. Die Reaktion war enorm. Dutzende Polizeiautos standen vor der Schule, alles wurde abgeriegelt, die Schule von Polizisten überflutet. Vor meiner Klasse waren acht Polizisten. Schüler wurden mit Handschellen verhaftet", erinnert sich Strasser. Danach wusste er, dass er sich einen neuen Arbeitsplatz suchen musste.

Die Stuyvesant High School in Lower Manhattan.
Foto: AP/Mary Altaffer

An der Elite-Schule 

Seit neun Jahren unterrichtet Thomas nun an der Stuyvesant High School, hauptsächlich das Fach Physik. Die Schule gilt als eine der besten öffentlichen High Schools der Stadt. Sie hat 3.000 Schüler, die bei dem standardisierten High School Admission Test (HSAT) die höchste Punktezahl erreichen müssen, um für die Aufnahme in die Schule in Frage zu kommen. Stuyvesant ist eine Feeder School für die Top-Colleges der USA, wie zum Beispiel Harvard, Princeton oder Yale. "Es ist leicht, die beste Schule zu sein, wenn man sich die Schüler aussuchen kann. Das gleiche gilt auch für die Top Colleges hier", sagt Strasser.

Über 70 Prozent der Schüler sind asiatischer Herkunft und bereiten sich intensiv auf den Aufnahmetest vor. Es sind "übermotivierte Schüler und Eltern und der Leistungsdruck an der Schule nimmt extreme und ungesunde Ausmaße an". Es werden täglich zehn Schulstunden zu je 41 Minuten angeboten, wobei sich die Schüler eigentlich eine Stunde fürs Mittagessen freinehmen sollten. Viele nehmen diese Pause aber nicht in Anspruch, sondern essen ihren Lunch während einer Unterrichtsstunde. "Die Schule erlaubt das leider."

Viele Schüler haben sehr lange Schultage. Da ein Großteil aus anderen Stadtteilen kommt, wie zum Beispiel Queens, müssen sie einen ein- bis eineinhalbstündigen Anfahrtsweg bewältigen. Von acht Uhr in der Früh bis 3:30 Uhr am Nachmittag haben sie Unterricht und besuchen dann im Anschluss noch "extracurricular activities" wie Sport, Musik oder Debattieren. Anschließend fahren sie wieder mindestens eine Stunde nach Hause und müssen danach ihre Hausübungen machen. Stuyvesant gibt als Richtlinie für die Lehrer 30 Minuten Hausübung pro Fach pro Tag vor. Bei zehn täglichen Schulstunden fallen daher vier bis fünf Stunden nur an Aufgaben an.

Enormer Leistungsdruck und psychische Probleme

Auf den Kindern lastet großer Druck, sie "sitzen mitten im Druckkochtopf" aufgrund der bevorstehenden College-Bewerbungen. Die Familien fordern anspruchsvolle Kurse auf College-Niveau. Wenn die Schule versucht, zurückzuschrauben, trifft das auf den Widerstand der Eltern. Strasser beschreibt völlig überforderte Kinder, viele mit Schlafmangel, denen vereinzelt die Augen im Unterricht zufallen. Auch massive psychische Probleme wie Depressionen, Selbstmordgefährdung oder Panikattacken sind unter den Schülern am Ansteigen. "Ich habe in fast jeder Klasse jemanden, der es nicht mehr schafft. Die kommen dann plötzlich nicht mehr. Verschieden Faktoren kommen zusammen. Was auch immer die Schüler mitbringen wird durch die Schule und den dortigen Druck nicht besser." Die Schule beschäftigt viele Sozialarbeiter, trotzdem kommt es relativ häufig vor, dass die Kinder auf einer Psychiatrie landen. Überdurchschnittlich viele Schüler leiden auch unter Autismus oder Asperger-Syndrom.

Auch die Pubertät und die damit verbundene Identitätsfindung belasten die Schüler. In manchen Fällen wissen die Eltern über die Identität ihrer Kinder nicht Bescheid: "Die Schüler haben eine völlig andere Identität in der Schule als zu Hause. Oder Homosexualität: In der Schule wissen es alle, die Eltern aber nicht. Das ist schon schwierig. Oder die Kinder verwenden in der Schule andere Vornamen, zu Hause chinesische und in der Schule amerikanisierte Namen. Wenn die Eltern dann zum Elternsprechtag kommen, wird es schwierig. Oft dürfen die Eltern das nicht wissen."

Strasser meint, dass das Niveau eines guten Gymnasiums in Österreich mit dem vergleichbar ist, was er an der Stuyvesant in Physik macht, mit dem Unterschied, dass hier der gesamte Physikstoff in einem Jahr durchgenommen wird. Er sieht die Schüler jeden Tag, dadurch erinnern sie sich gut an den durchgenommenen Stoff. Das Jahr ist sehr intensiv, daher kann man als Lehrer sehr effektiv arbeiten.

Im Allgemeinen sind die Schüler an seiner jetzigen Schule sehr kreativ, motiviert und engagiert. Beispielsweise wird von den Schülern jedes Jahr ein ganzes Musical produziert und aufgeführt. Die Musik und der Text werden von ihnen komponiert und geschrieben; Bühnentechnik und Bühnenbild werden gestaltet. Das mündet dann in einen Wettbewerb zwischen verschiedenen Altersgruppen mit drei Aufführungen und einer Bewertung durch eine Jury. "Die Schüler sind unglaublich kreativ."

Wie geht es für ihn weiter?

Zur Zeit hat Strasser keine Pläne, nach Österreich zurückzukehren, besucht aber regelmäßig seine Familie dort. Mit seiner Lebensgefährtin reist er gerne und verbringt auch viel Zeit in der Natur und in den Bergen. In New York fühlt er sich sehr wohl. "Die Offenheit, Vielfalt und Energie von New York findet man halt in Österreich nirgends auch nur annähernd." Das geht ihm schnell ab, wenn er nicht in der Stadt ist. (Stella Schuhmacher, 29.1.2020)

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