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Die Mühen der Ebene: Ein Referenzzentrum für das Coronavirus ist die Charité in Berlin. Dort findet auch Laborarbeit statt.

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Stephan Aberle ist Virologe am Zentrum für Virologie der Medizinischen Universität Wien und dort Experte für Coronaviren.

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STANDARD: Das Virus 2019-nCoV hält derzeit viele in Atem. Wie betrachtet ein Virologe an der Med-Uni Wien die derzeitigen Entwicklungen?

Aberle: Wir verfolgen die Entwicklungen mit sehr großem Interesse. Das, was derzeit passiert, ist sozusagen work in progress. Viele Forscher sind dabei, dieses neu entdeckte Virus im Detail zu verstehen. Zoonosen, also Krankheiten, die von Tieren übertragen werden, gibt es häufig.

STANDARD: Wie können sich Laien diese Arbeit an einer Neuentdeckung vorstellen?

Aberle: Es ist eine virologische Detektivarbeit, und derzeit wird an vielen Fronten gearbeitet. Die erste Etappe war es festzustellen, welches Virus dafür verantwortlich war, dass plötzlich eine auffällig große Anzahl von Menschen in Wuhan an einer besonderen Form von Lungenentzündung erkrankt ist.

STANDARD: Lungenentzündungen sind an sich ja keine seltene Erkrankungen, in Spitälern aber doch sehr häufig?

Aberle: Das stimmt, allerdings sind die Gesundheitsbehörden in China nach der SARS-Epidemie ganz besonders wachsam. So etwas soll nicht mehr passieren. Wenn also in ein Krankenhaus plötzlich gehäuft Kranke kommen und die Mediziner dort feststellen, dass sie alle auf einem nahegelegenen Markt waren, auf dem auch lebende Tiere verkauft werden, läuten automatisch die ersten Alarmglocken. SARS war auch ein Coronavirus, wurde über die Zibetkatze verbreitet. Die neuen Lungenerkrankungen hätten der Ausbruch eines neuen SARS sein können.

STANDARD: Wie lässt sich das feststellen?

Aberle: Man untersucht Schleim aus den Lungen im Labor, konkret isoliert man das Virus und sequenziert sein Genom. So kann man feststellen, ob es SARS ist.

STANDARD: War es aber nicht?

Aberle: Nein, war es nicht. Doch die Genomsequenzierung zeigte, dass es sich um ein neues Coronavirus handelt. Sobald sie das wussten, haben sie die WHO informiert und die Daten zu diesem neuen 2019-nCoV publiziert.

STANDARD: Haben auch Sie diese Daten gelesen?

Aberle: Ja klar, sie wurden am 12. Jänner publiziert und über die WHO, die ECDC und andere Kanäle verbreitet. Vier Tage später wurde auch das diagnostische Tool präsentiert, um bei Verdachtsfällen feststellen zu können, dass es sich tatsächlich auch um dieses neue Virus handelt. Auch wir haben es hier am Zentrum. Wir halten uns da genau an die Vorgaben: Getestet werden Menschen mit Atemwegserkrankungen, die Fieber, Husten und Atemnot haben und die in Wuhan waren oder Kontakt zu einem Menschen von dort haben. In diesem Fall besteht ein Verdacht.

STANDARD: Was wissen Sie noch über das Virus?

Aberle: Wir können derzeit nur Schlüsse aus den Daten ziehen, die publiziert sind. Wir wissen, dass sechs Menschen gestorben sind, es sich in allen Fällen um immunologisch geschwächte Kranke handelte, und wir halten uns über die Anzahl der angeblich Kranken auf dem Laufenden. Aus diesen Faktoren können wir die Aggressivität des Virus schätzen. Uns scheint, dass 2019-nCoV nicht sehr aggressiv ist, sonst hätte es schon mehr Todesfälle gegeben. Wir vergleichen diese Zahlen mit der SARS-Epidemie, da lag die Letalität bei zehn Prozent. Beim aktuellen Virus dürfte sie viel niedriger sein. Allerdings haben wir keinen Überblick darüber, wie viele Menschen insgesamt ausgetestet wurden. Das alles findet gerade statt.

STANDARD: In den letzten Wochen war nicht klar, ob die Übertragung des Virus nur von Tier auf Mensch oder auch von Mensch zu Mensch möglich ist. Letzteres gilt doch als Zeichen dafür, dass das Virus gefährlich ist, oder?

Aberle: Genau, allerdings weiß man zum jetzigen Zeitpunkt nicht, wie hoch das Ansteckungsrisiko eigentlich ist und wie die Übertragung funktioniert, ob also tatsächlich die Möglichkeit einer Tröpfcheninfektion besteht.

STANDARD: Warum weiß man das nicht?

Aberle: Die neuesten Erkenntnisse ergeben sich aus der Anamnese von Patienten, die nachweislich an 2019-nCoV erkrankt sind. Sie werden befragt, ob sie in Wuhan waren, ob sie dort am Fischmarkt waren, was sie gegessen haben. Es sind diese mündlichen Befragungen, die auf die Übertragung schließen lassen. Wenn also jemand nicht auf dem Fischmarkt war und auch keinen Kontakt nach Wuhan hatte, dann besteht der Verdacht, dass es sich um eine Mensch-zu-Mensch-Übertragung handeln muss. Auch die zeitlichen Komponenten gilt es zu berücksichtigen. Die Inkubationszeit beträgt zehn bis 14 Tage. Ein Hinweis, dass das Virus sich nicht massiv bei Kontaktpersonen in Wuhan ausgebreitet hat, ist jedenfalls eher beruhigend.

STANDARD: Sind die publizierten Daten aus China ausreichend?

Aberle: An sich ja, aber wir wissen nicht, ob und in welchen anderen Spitälern in China nach dem neuen Virus gefahndet wird. Auch wir erfahren vieles derzeit aus den Medien. Sicher ist: Je mehr man testet, umso mehr Krankheitsfälle von 2019-nCoV wird man vermutlich finden.

STANDARD: Wie hoch schätzen Sie das Risiko, dass sich die Erkrankung ausbreitet?

Aberle: Tatsache ist: Sie breitet sich über die Flugrouten aus. Wenn das Virus sehr ansteckend ist, kann daraus sehr schnell eine Pandemie, also eine weltweite Verbreitung, entstehen. Ich nehme an, dass die Krankheitsfälle in Asien möglicherweise auch über die Körpertemperaturkontrollen auf den Flughäfen entdeckt wurden. Flüge aus Wuhan werden derzeit kontrolliert. Das bedeutet ja auch, dass die Präventionsmaßnahmen gegen so eine Pandemie tatsächlich auch funktionieren.

STANDARD: Wird es auch Fälle in Europa geben?

Aberle: Das lässt sich nicht wirklich abschätzen. Das chinesische Neujahr und die verstärkte Reisetätigkeit sind jedenfalls ein Faktor, der die Verbreitung fördert, es also vielleicht auch Fälle in Europa geben könnte. In Rom kommt ein Flug aus Wuhan an, dort gibt es Körpertemperaturkontrollen, in Frankfurt und London nicht, aber auch von dort gibt es Direktflüge. Wir werden es sehen, jedenfalls sind die Behörden gerüstet, wir haben Pandemiepläne, an die wir uns halten. Panik ist nicht angebracht.

STANDARD: Wird man die Infektionsquelle eigentlich je entdecken?

Aberle: Wir vermuten, dass die Infektion schon über lebende Wildtiere funktioniert. Bei SARS war der Übertragungsweg über Fledermäuse, die ihrerseits Zibetkatzen infiziert hatten, die dann auf Märkten mit Menschen in Kontakt kamen. Ziemlich sicher ist, dass es sich um wilde, also nicht domestizierte Tiere handelt. Es könnte sein, dass Wildtiere gezüchtet und auf dem Markt verkauft wurden.

STANDARD: Also nicht um Haustiere?

Aberle: Wenn Menschen und Tiere zusammenleben, passen sie sich aneinander an. Das ist ein Prinzip der Evolution. Seit 10.000 Jahren ist der Mensch sesshaft und lebt mit Tieren zusammen. Genetisch betrachtet, hat da ein Austausch von Viren stattgefunden. Die Masern stammen ursprünglich von Rindern, weiß man. Das ist sozusagen ein Relikt. Aber wie gesagt, es ist noch zu früh, um Aussagen zu 2019-nCoV zu treffen, wir beobachten die Entwicklungen mit großer Aufmerksamkeit. (Karin Pollack, 23.1.2020)