Er wird im Juni 2020 ein Dreivierteljahrhundert alt. Schon jetzt besucht er Europa und wirbt um Verständnis für die Jazztradition: Anthony Braxton, Saxofonist, Bassklarinettist, Komponist.

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Die Reichweite seiner jazzmusikalischen Ansprüche stimmt Musiktitan Anthony Braxton (74) auf die jeweiligen Erfordernisse ab. Nimmt er sein Stamminstrument, das Altsaxofon, zur Hand, so kann man sicher sein: Braxton bläst nicht bloß Bebop-typische Ketten von Achtelnoten hinaus in die abgestandene Luft eines Clubs.

Braxton, der gerne Strickjacken trägt, kommt häufig ungekämmt daher. Er gleicht dann einem afroamerikanischen Professor für, schätzungsweise: Raumfahrt und Düsenantrieb. Bevor er mit Blasen loslegt, vermisst er sämtliche Möglichkeiten, die Instrument und Tradition für ihn hergeben. Die Feldforschung des Jazz kennt keine Geringfügigkeitsgrenzen. So lauschte Braxton einst seinem Hund Buffy und entnahm dessen schauerlichem Gebell Anregungen für die eigene, stotternde, dann wieder seidenweiche Intonation ("Dog Bark Logics").

Braxton spielt anders als die anderen. Er bündelt z. B. Sechzehntel in Zweiergruppen, um wegzukommen von den Triolen der Bebopper. Oder er stößt mittels Doppelzunge (alter Holzbläsertrick!) jeden Ton einzeln an. Das klingt dann wie ein Schnellfeuer-Stakkato. Gegenüber solchen Formen wohldosierter Raserei wirkt rückschauend Charlie Parker wie ein geschnäuzter Collegestudent.

Aber Virtuosität um ihrer selbst willen ist von Braxton nicht zu haben. Der freundliche ältere Herr, ursprünglich aus South-Side-Chicago stammend, gehört zu den Großkomponisten unserer Tage. Nur wissen das erstaunlich wenige "Neue-Musik-Liebhaber". Der von Weißen und anmaßlichen Angepassten wie Wynton Marsalis dominierte Avantgarde-/Jazz-Markt negiert, diesseits wie jenseits des Atlantiks, wirkungsvoll jemanden wie Braxton. Oder auch dessen Bruder im Geiste, Henry Threadgill.

Planeten und Galaxien

Braxton schrieb zu einem Zeitpunkt, als sein Idol John Cage im Laubwald noch Pilze sammelte, bereits "Compositions" für vierfaches Orchester. Er ersann Simultanwerke für mehrere Planeten und diverse, nicht allzu weit voneinander entfernt liegende Galaxien. Dass sich nicht sämtliche Konzertveranstalter umgehend auf solche Vehikel des Fortschritts voller Begeisterung warfen, nahm ihnen deren Schöpfer nicht weiter krumm. Braxton ist, wie sein Biograf Peter Niklas Wilson einmal schrieb, ein durch und durch pragmatischer Utopist. Irgendwann, in den 1980ern, wollte er im "Trillium"-Opernsystem allen Ernstes 36 Einakter zu Einheiten von je zwölf Musiktheaterabenden bündeln. Das konnte sich von vornherein nicht ausgehen.

Braxton, der Vielschreiber mit dem Ethos eines mittelalterlichen Handschriftenmalers, winkte vorsorglich ab. Wenn niemand seine Monsterbrocken aufführen wolle, könne er immer noch in den Keller steigen, gab er einmal zu Protokoll. Er schaue sich dann seine Partituren an und stelle sich lebhaft vor: "Ja, das wäre so gegangen, und dann wäre dies passiert…" (An Richard Wagners Opern reizt ihn ausgerechnet deren "Spiritualität"!)

Steuerung im Kopf

Es ist ein Klischee: Anthony Braxtons Musik wirke auf Gelegenheitshörer ausgesprochen zerebral, kopfgesteuert und triebgehemmt. Sie benutze gewisse Konventionen des Jazz nur, um den Größenwahn ihres Schöpfers verschleiern zu helfen. Der schlimmste Vorwurf, der einen afroamerikanischen Musiker ereilen kann: Sein Jazz swinge nicht! Mumpitz solcher Art wird Braxton nunmehr drei Abende lang im Alten Schlachthof Wels entgegentreten. Dort spielt er von Donnerstag bis Samstag jeweils "Standards": im Verein mit Klavier (Alexander Hawkins) und einer klassischen Rhythmusgruppe. Braxton ist Avantgardist, aber eben kein Bilderstürmer.

In der Ahnengalerie des Jazz sucht er bevorzugt die Bildnisse der Cool-Jazz-Giganten auf: etwa von Lennie Tristano. Oder er folgt den abstrakten Linien des Tenorsaxofonisten Warne Marsh, indem er dessen Binnenartikulationen fortführt: "Stolperer", die gegen die Periodizität des Beats anspielen. Einzelphrasen werden dadurch hervorgehoben und beginnen gleichsam zu funkeln.

Die (fallweise) herrlichste Musik der Welt ist von maximaler Komplexität. Ihr Urheber bekam einst in Korea – wo er in einer Army-Band musizierte – eine Platte mit Arnold Schönbergs Klavierstücken op. 11 in die Hand gedrückt. Ein Glücksfall. Zur Stunde (!) zählt seine Diskographie übrigens knapp 160 Einträge. Da schweigt auch Hund Buffy ehrfurchtsvoll. (Ronald Pohl, 23.1.2020)