Im Gastkommentar vertritt der Verfassungsrechtler Wolfgang Hecker die Position, dass das Kopftuch in einer freiheitlichen Gesellschaft mit Religionsfreiheit und Elternrechten nicht einfach staatlich untersagt werden darf.

Die Koalitionsvereinbarung von ÖVP und Grünen sieht eine Erweiterung des von der türkis-blauen Bundesregierung beschlossenen Kopftuchverbots für Schülerinnen bis zur Vollendung des 14. Lebensjahrs vor. Im Regierungsprogramm bekennt sich die neue Regierung dazu, "dass Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit Kinder möglichst ohne Zwang (wie zum Beispiel das Tragen eines Kopftuchs) aufwachsen können". Dazu sollen Mädchen und junge Frauen gestärkt und in ihrer Selbstentfaltung unterstützt werden "sowie die Ausweitung des bestehenden Kopftuchverbots auf Schülerinnen bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres (Erreichen der Religionsmündigkeit)" erfolgen. Integrationsministerin Susanne Raab (ÖVP) kündigte eine entsprechende Initiative gleich innerhalb der ersten 100 Tage der neuen Regierung an.

Die neue Regierung will Mädchen in ihrer Selbstentfaltung unterstützen. Aber ist ein Zwang wie das Kopftuchverbot bis 14 der richtige Weg?
Foto: Christian Fischer

Reine Zwangmaßnahme

Die Verbotskonzeption der neuen Regierung ist vollständig der Gedankenwelt der ehemaligen Koalition von ÖVP und FPÖ verhaftet. Kennzeichnend dafür ist, dass das Kopftuch auf eine reine Zwangsmaßnahme reduziert wird. Das hält einer differenzierten Betrachtung dieser Frage nicht stand. Denn das Tragen eines Kopftuchs von Kindern beruht nicht in erster Linie auf bloßem Zwang, sondern erwächst aus dem familiären Umfeld, in dem Kinder aufwachsen.

Kinder orientieren sich oft an den Lebensweisen der Eltern, aber auch ein erzieherischer Einfluss der Eltern ist möglich. Ein derartiger familiärer Einfluss kann in einer freiheitlichen Gesellschaft mit Religionsfreiheit und Elternrechten nicht einfach staatlich untersagt werden. Die Grenze einer rechtlich unzulässigen Missachtung des Kindeswohls wird in diesem Fall nicht erreicht. Ein religiöser Einfluss wird auch in christlich orientierten Familien ausgeübt, mit der Taufe erfolgt dabei eine frühzeitige Einbindung von Kindern, die sich in dem Zusammenleben in der Kirchengemeinde fortsetzt.

Einseitige Fixierung

Auch wenn die Mehrzahl muslimischer Verbände das Kopftuch bei kleineren Kindern unter 14 Jahren für nicht geboten erachtet, ist im Einzelfall eine Berufung von Eltern auf ihr individuelles Recht der Glaubensfreiheit in dieser Frage möglich. Denn die Religionsfreiheit ist ein individuelles Grundrecht, das nicht unter Berufung auf die Auffassung der Mehrheit einer Glaubensgemeinschaft verwehrt werden kann.

Zudem wird die Leitvorstellung, dass Kinder möglichst ohne Zwang aufwachsen sollen, in dem einschlägigen Abschnitt des Regierungsprogramms von ÖVP und Grünen ausschließlich auf das Thema Kopftuch bezogen. Zwar wird einleitend als Hindernis für ein Aufwachsen von Kindern ohne Zwang nur "zum Beispiel" auf das Kopftuch verwiesen. Bei den danach folgenden konkreten Maßnahmen wird aber ausschließlich das Verbot des Kopftuchs in der Schule bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres genannt. Damit steht die Regelung trotz der beschönigenden Formulierungen letztlich in der Tradition der einseitigen Fixierung auf das Kopftuch durch die vorangegangene Regierung von ÖVP und FPÖ. Die Regelung verstößt damit auch gegen das verfassungsrechtliche Gleichheitsgebot.

Keine laizistische Verfassung

Der Verfassungsdienst des österreichischen Justizministeriums hat 2018 das Kopftuchverbot in einem dreiseitigen Kurzgutachten für grundsätzlich verfassungsgemäß erachtet, sich dabei allerdings vor allem auf Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bezüglich Frankreich, der Türkei und der Schweiz bezogen. Der Gerichtshof stützte seine Entscheidung aber darauf, dass das nationale Verfassungsrecht in diesen Fällen eine strikte Trennung von Staat und Religion im Sinne einer laizistischen Verfassung ausweist. Die Regelungen wurden von dem Gerichtshof aufgrund der Achtung der nationalen Verfassungssouveränität nicht infrage gestellt.

In Österreich fehlt aber eine derartige laizistische Ausrichtung des nationalen Verfassungsrechts. Es besteht keine strikte Trennung von Staat und Kirche, sondern ein bedingt kooperatives Verhältnis, wie es etwa auch bei der Zulassung des Religionsunterrichts in der staatlichen Schule deutlich wird. Deshalb kann bei der rechtlichen Beurteilung eines Kopftuchverbots nicht auf laizistische Verfassungsmodelle anderer Länder abgestellt werden, wie es in der Debatte in Österreich und Deutschland seitens der Befürworter eines Kopftuchverbots immer wieder erfolgt.

Evident verfassungswidrig

Im Ergebnis ist ein Kopftuchverbot für Schülerinnen unter dem Aspekt der Religionsfreiheit und dem Elternrecht evident verfassungswidrig.

Zu der vergleichbaren Rechtslage in Deutschland vertritt die große Mehrheit der verfassungsrechtlichen Stimmen die Auffassung, dass ein Verbot des Kopftuchs bei Kindern verfassungswidrig ist. Auch der wissenschaftliche Dienst des Bundestags hat in einem Gutachten zum Thema Verbot des Kopftuchs von Schülerinnen diese Auffassung vertreten. In Deutschland werden Verbotsforderungen gerade auch aus rechtlichen Gründen überwiegend kritisch gesehen. Da auch Österreich keine laizistische Verfassung besitzt, ist zu erwarten, dass das Kopftuchverbot in dem anstehenden Verfahren vor dem österreichischen Verfassungsgerichtshof für verfassungswidrig erklärt wird.

Zum Thema Kopftuch wäre es sinnvoller, einen produktiven Dialog mit muslimischen Verbänden und Eltern zu führen – ohne Androhung von Verbotsregelungen oder Sanktionen. (Wolfgang Hecker, 23.1.2020)