Servus, Kurtl, how are you? Peter Kleinmann hat dieser Tage in Manhattan an eine Hotelzimmertür geklopft und seinen Onkel, als dieser öffnete, überrascht. Kurt hatte keine Ahnung, dass sein Neffe von Wien nach New York geflogen war, um ihm zum Neunziger zu gratulieren.

Die Kleinmanns im April 1938: Herta, Gustav, Kurt, Fritz, Tini und Edith (von links). Tini und Herta wurden von den Nazis ermordet, Gustav und Fritz überlebten Buchenwald, Auschwitz und Mauthausen, Kurt und Edith emigrierten.
Foto: Kurt Kleinmann

Happy Birthday, dear Kurt,
Happy Birthday to you!

Dass sie gemeinsam feiern konnten, ist aus Kurts wie Peters Sicht ein Wunder. Kurt hat den Holocaust überlebt, weil er von seiner Mutter Tini, als er Elf war, im Februar 1941 mit dem Schiff nach New York geschickt worden war. Peter hat überhaupt erst zur Welt kommen und über den Volleyball zu einem der populärsten österreichischen Sportfunktionären werden können, weil Kurts Bruder Fritz gemeinsam mit Vater Gustav sechs Jahre in fünf Konzentrationslagern überlebt hatte.

Zur Welt gekommen ist Peter Kleinmann am 17. September 1947 als Sohn von Fritz und Hedy Kleinmann, die Ende 1945 geheiratet hatten. Seine Großmutter Tini und seine Tante Herta hat er nie kennengelernt. Sie wurden 1942 von der Gstapo verhaftet, nach Weißrussland deportiert und in einem Vernichtungslager bei Minsk ermordet.

Peter Kleinmann: Das ist meine Familie. Und da gehört natürlich noch meine Tante Edith dazu, die von der Oma schon Anfang 1939 nach England geschickt wurde und später auch in den USA gelebt hat.

Peter Kleinmann, geboren am 17. September 1947 in Wien, holte als Volleyballer, Trainer und Klubmanager insgesamt 20 Meistertitel und war 16 Jahre lang Präsident des Volleyballverbands.
Foto: APA/Hochmuth

STANDARD: Sie sind ein Mensch, der seit Jahrzehnten in der Öffentlichkeit steht. Und doch erfährt man erst jetzt von Ihrer Familiengeschichte. Wieso?
Kleinmann:
Ich habe diese Geschichte nie vor mir hergetragen. Es hat auch nie jemand danach gefragt. Und der Papa und der Großvater haben kaum über diese Zeit geredet – nur, wenn ich sie gefragt habe.
STANDARD:
Gehe ich richtig in der Annahme, dass Sie nicht rasend oft gefragt haben?
Kleinmann: Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich nicht im Hass erzogen wurde. Wobei ich jetzt schon sehr an mir arbeiten muss, dass mich dieses Buch nicht radikalisiert.

Das Buch wurde vom US-Geschichtswissenschafter Jeremy Dronfield geschrieben. Es trägt den Titel "The Boy Who Followed His Father into Auschwitz", kürzlich ist es auch auf Deutsch erschienen. Es basiert auf Eintragungen in ein Tagebuch, das Gustav Kleinmann über all die KZ-Jahre vor den Nazis verstecken konnte, auf vielen Interviews und peniblen Recherchen sowie auf einem weiteren Buch, das Fritz Kleinmann 1995 gemeinsam mit Reinhold Gärtner herausgebracht hatte: "Doch der Hund will nicht krepieren".

Klatsch – er liegt auf allen Vieren,
doch der Hund will nicht krepieren.

Gustav Kleinmann schrieb viele Gedichte in sein Tagebuch – das war ihm eine kleine Hilfe, die Greueltaten der Nazi-Schergen zu verarbeiten, das tägliche Morden, das sie aus nächster Nähe mitbekamen.

Zur Erinnerung an Tini und Herta Kleinmann: Gedenktafel "Im Werd" in Wien-Leopoldstadt.
Foto: Peter Kleinmann

STANDARD: Wie hat man diese Hölle sechs Jahre lang überleben, wie hat man es aushalten können?
Kleinmann: Ausgehalten haben es der Opa und der Papa mit sehr viel Glück, mit sehr viel Lebenswillen und mit sehr viel Geschick. Der Opa war zwar Polsterer und Tapezierer, doch wenn im KZ ein Nazi gefragt hat, ob es einen Glaserer gibt, dann hat der Opa aufgezeigt. Und wenn die anderen gemeint haben, ’Du bist doch gar kein Glaserer’, hat er gesagt, ‚Nu, werd' ich halt einer werden’.

Die Kleinmanns haben in Wien-Leopoldstadt gewohnt, "Im Werd" gleich beim Karmelitermarkt. Sie waren jüdisch, aber nicht religiös. Die Wohnung war klein, die Eltern und alle vier Kinder schliefen gemeinsam in einem Raum. Gustav stammte aus Galizien, er hatte im Ersten Weltkrieg gekämpft, war zweimal verwundet und mit einem Tapferkeitsorden bedacht worden. "Der Opa hat geglaubt", sagt Peter Kleinmann, "dass ihm als Kriegsheld nichts passieren wird." Doch der Opa hat sich, wie so viele, getäuscht in einer Zeit, die man kaum besser als Dronfield beschreiben kann:

"Die Welt ließ Österreich
vor die Hunde gehen.
Und Österreich hieß
die Hunde willkommen."

Gustav und Fritz Kleinmann wurden von der Gestapo geholt. Nachbarn hatten sie verraten, vermeintlich gute Freunde, an vorderster Front "Wickerl", der Kohlenmann. "In Buchenwald am 2. Oktober 1939. Nach einer Fahrt von zwei Tagen Bahnfahrt angekommen." Das war Gustavs erster Tagebucheintrag. "Man glaubt nicht, was man aushaltet", schrieb er wenig später.

Kurt Kleinmann kehrte 1953 als Gefreiter der US-Army nach Wien zurück.
Foto: Kurt Kleinmann

Ein Auszug aus dem Buch: ’Der erste Schlag landete wie ein Schnitt mit dem Rasiermesser auf Fritz’ Hintern. "Zählen!" brüllten sie ihn an. Fritz hatte das Ritual schon gesehen, er wusste, was man von ihm erwartete. "Eins", sagte er. Die Bullenpeitsche schnitt ihm wieder ins Fleisch. "Zwei", keuchte er auf. ... Als endlich die fünfundzwanzig erreicht war, wurden die Gurte gelöst, und er musste sich hinstellen. Vor den Augen seines Vaters führte man ihn weg, blutend und vom Schmerz zerfressen, halb bewusstlos, während der nächste Unglückliche auf den Bock geschnallt wurde.‘

Klick-klack Hammerschlag,
klick-klack Jammertag.
Sklavenseelen, Elendsknochen,
dalli und den Stein gebrochen.

Gustav und Fritz haben im Steinbruch gearbeitet, haben in Latrinen Exkremente geschaufelt, nicht selten mit bloßen Händen, sie sind in Zugwaggons auf Leichen gesessen, weil kein Platz zum Stehen war. Gustav schrieb nach Hause:

"Der Junge ist meine größte Freude.
Einer stützt den anderen.
Wir sind die Unzertrennlichen."

"Du musst deinen Vater vergessen." Das war der Rat, den Fritz bekam, als Gustav von Buchenwald nach Auschwitz gebracht werden sollte. Doch Fritz meldete sich freiwillig, um den Vater zu begleiten. Sie überlebten einen Todesmarsch, schwere Misshandlungen und Krankheiten. Gustav lag einige Tage im Todestrakt, im Nebenzimmer wurden todbringende Spritzen gesetzt. Fritz hatte zeitweise kaum mehr als 35 Kilogramm. Sie überlebten Auschwitz, sie überlebten Mauthausen, sie überlebten Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen.

Hedy und Fritz Kleinmann mit ihrem Sohn Peter.
Foto: Peter Kleinmann

Zunächst hatten sie ab und zu noch Briefe und Pakete von ihren Lieben daheim erhalten, 1942 kam die Nachricht von Tinis und Hertas Deportation nach Weißrussland. Vom Tod der Frau und Tochter bzw. der Mutter und Schwester erfuhren sie erst 1945. Nach ihrer Rückkehr nach Wien.

"Seit Jahrzehnten weiß ich, dass sie dort getötet wurden", hat der heute 90-jährige Kurt Kleinmann festgehalten. "Ich habe sogar den abgelegenen Ort besucht, an dem es passierte." Kurt Kleinmann ist dem Buchautor Dronfield unendlich dankbar dafür, dass dieser "alle Teile zusammengefügt hat". Die Briefe seiner Mutter hat er aufgehoben, in einem der letzten stand:

"Mein geliebter Kurtl ... ich bin so froh, dass es Dir gut geht .... schreib mir oft ... Herta denkt immer an dich ... Ich fürchte jeden Tag ... Herta sendet Dir Umarmungen und Küsse. Tausend Küsse von Deiner Mama. Ich liebe Dich."

Jeremy Dronfield, "Der Junge, der seinem Vater nach Auschwitz folgte". € 17,50 / 464 Seiten. Droemer, München 2019.
Foto: Droemer

Kurt war 1941 in New Bedford in Massachusetts gelandet, bei den Barnets. Sein Ziehvater Samuel war Richter, ein angesehenes Mitglied der jüdischen Gemeinde. Kurt besuchte die Highschool und studierte Pharmazie, 1953 kehrte er als Gefreiter der US-Army nach Wien zurück. Das Wiedersehen mit dem jungen Amerikaner war nicht einfach für Gustav, seinen Vater, und Fritz, seinen Bruder, die mit den Kommunisten sympathisierten. Der sechsjährige Peter hatte es da leichter, er sympathisierte mit den Süßigkeiten, die er von Onkel Kurt bekam.

Fritz und Hedy hatten kurz ein gemeinsames Leben im jungen Staat Israel versucht, doch weder Israel noch das gemeinsame Leben hauten hin. Sie kehrten nach zwei Jahren zurück, ließen sich scheiden und heirateten jeweils recht bald wieder. Peter wuchs bei der Mutter und dem Stiefvater auf, dem "Vati". Fritz ist 2009 verstorben, in einem Alter von 85 Jahren, das auch sein Vater Gustav erreicht hatte.

Auf die Reise zum Neunziger des Onkels hat sich Peter sehr gefreut, er erwartete ein großes Hallo. "Mittlerweile hab ich ja Verwandte nicht nur in New York, sondern auch in Kalifornien und was weiß ich wo noch. Dort drüben gibt’s eine richtige Kleinmann-Mischpoche."

STANDARD: Was bedeutet die Geschichte Ihrer Familie, was bedeutet dieses Buch für Sie?
Kleinmann: Diese Geschichte ist für mich aus zwei Gründen wichtig. Erstens stelle ich mit Schrecken fest, dass mich die Stimmung heutzutage nicht selten an die Stimmung erinnert, mit der damals alles begonnen hat. Und zweitens, wie gesagt, ist das meine Familie. (Fritz Neumann, 27.1.2020)