Männer streifen bedeutend mehr Geld dafür ein, dass sie unbezahlte Sorgearbeit den Frauen überlassen.

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Allmählich ist es nur noch peinlich: Angesichts der neuen Oxfam-Studie, die einmal mehr belegt, wie ungleich der Wohlstand zwischen Frauen und Männern verteilt ist und wie viele unbezahlte Stunden Frauen an Haus- und Fürsorgearbeit leisten, müssten Männer eigentlich mit hochroten Köpfen in Gruppen zusammenstehen und sich beschämt darüber austauschen, wieso das immer noch so beschissen läuft – und es anschließend ändern.

Ist ja nicht so, dass dieses Phänomen erst seit gestern bekannt ist.

Sich für sein eigenes Fehlverhalten zu schämen ist jedoch ziemlich aus der Mode gekommen. Sie mögen das für eine steile, wenn nicht gar dämliche These halten, weil die Debatten voll von Beiträgen darüber sind, dass die Zwanzigerjahre dieses Jahrhunderts das Jahrzehnt der Scham sein könnten. Stichwort Flugscham. Aber wenn Sie genauer hinschauen, dann werden Sie feststellen, dass solche Aussagen vor allem von Personen getätigt werden, die persönliche oder kollektive Scham nicht ertragen wollen. Da wird dann davon fabuliert, dass man heutzutage von "autoritären Weltverbesserern" aufgefordert ist, sich für wirklich alles zu schämen:

Nicht mal mehr reich sein darf man

"Fleisch-Scham. Konsum-Scham. Klassenscham." Und vieles mehr. Grundsätzlich ist gegen eine Kritik an Hypermoral und Übernormierungen überhaupt nichts einzuwenden. Sie ist sogar notwendig, um eine freiheitliche Gesellschaft zu gewährleisten. Scham- und Peinlichkeitsschwellen allerdings auch. Der Soziologe Norbert Elias hat in seinem Werk "Über den Prozess der Zivilisation" schon vor 80 Jahren herausgearbeitet, inwiefern das Einziehen dieser Schwellen (Scham als Angstbesetzung eigener Handlungen und Peinlichkeit als Angstbesetzung der Handlungen anderer) Bestandteil der soziokulturellen Evolution ist. Ohne diese Schwellen würden wir alle sehr viel ekelhafter miteinander umgehen.

Aber wie gesagt, man kann es damit auch übertreiben. Auf diese Idee kommt man jedenfalls unweigerlich, wenn man so ein Wort wie "Klassenscham" liest. Wobei ich, wenn wir hier schon mal unter uns sind, gestehen möchte, dass ich nachschlagen musste, was das bedeuten könnte: Für welche Klasse soll man sich denn schämen? Der Philosoph Christian Schüle, der den Begriff verwendet hat, meinte damit vermutlich, dass man sich mittlerweile dafür schämen soll, einer höheren Klasse anzugehören als die meisten seiner Mitmenschen. Tatsächlich beschreibt dieser Begriff aber gerade die Scham derjenigen, die Menschen aus unteren Klassen gegenüber höheren Klassen eingetrichtert bekommen.

Damit das Arbeiterkind, wenn es sich schon trotz kaum durchlässigen Bildungssystems bis in die Uni vorgekämpft hat, bloß nicht denkt, es würde irgendwie dazugehören.

Während Schüler und andere sich also darüber beschweren, dass man nicht mal mehr wohlhabend sein darf, ohne dass man dafür mit einer Aufforderung nach Klassenscham angepflaumt wird, ging es dabei eigentlich immer um das genaue Gegenteil: Arme nicht hochkommen zu lassen. So viel zu angeblicher Hypermoral. Rechtskonservative echauffieren sich, dass die Flugscham jetzt Kerneuropa erreicht und Autokonzerne aufgrund des "Wahnsinns der E Mobilität" pleitegehen. Unterdessen wird bereits prognostiziert, dass sich die Anzahl der Flugreisenden in den nächsten 20 Jahren verdoppeln wird, und Volkswagen jagt, noch ganz geschwächt vom Abgasskandal, neue Absatzrekorde.

Bitte vernünftig bleiben

Wir sind gerade dabei, uns um das eigentliche Gefühl der Scham, das uns womöglich zu einer besseren, zivilisierteren Gesellschaft machen würde, herumzudrücken, indem wir ziemlich unverschämt behaupten, sei es wirklich mal genug mit dem schlechten Gewissen. Dabei fangen wir in vielerlei Hinsicht gerade erst an zu entdecken, dass wir überhaupt ein Gewissen haben.

Freud hat mal geschrieben, dass der Verlust des Schamgefühls das erste Zeichen von Schwachsinn sei: "Die Zerstörung der Scham bewirkt eine Enthemmung auf allen anderen Gebieten, eine Brutalität und Missachtung der Persönlichkeit des Mitmenschen." Genau an dem Punkt sind wir. Wir stecken in dem fest, was Elias einen "Entzivilisierungsschub" nennt. Wir schämen uns nicht etwa zu viel, wir schämen uns auf vielen Gebieten deutlich zu wenig. Deshalb sind auch all die Appelle, man möge doch jetzt bitte vernünftig bleiben und sich um die Lösung der Probleme bemühen, keine sachdienlichen Hinweise. Wir sind bei der Lösung dieser Probleme überhaupt noch nie vernünftig gewesen. Es hat uns bislang einfach zu oft einen Dreck geschert, dass wir den Planeten zerstören, die Rechte von Minderheiten mit Füßen treten und Frauen unbezahlt Schwerstarbeit verrichten lassen, damit wir uns nicht selbst die Hände schmutzig machen müssen. Sorgearbeit ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, auf die viele einfach keinen Bock haben.

Und wenn ich "wir", "uns" und "viele" sage, dann meine ich großflächig Männer. Wir sollten uns was schämen! (Nils Pickert, 26.1.2020)