Im Plenarsaal des Parlaments ist die Stimmung am Kochen, beim Interview sitzen die beiden Klubchefs der Regierungsparteien daher auf Nadeln: Davor haben SPÖ und Neos ihrer Empörung darüber Luft gemacht, dass ihnen die Koalitionsfraktionen Teile ihres Untersuchungsbegehrens zum anstehenden U-Ausschuss zu Ibiza und Casinos-Gate herausgestrichen haben. Außerdem müssen "der Gust" und "die Sigi" zwischendurch auch zu einer Abstimmung im Nationalrat laufen.

Die Klubchefs Sigrid Maurer (Grüne) und August Wöginger (ÖVP) beim STANDARD-Interview im Parlament.
Foto: Matthias Cremer

STANDARD: Bei der jeweils anderen Anhängerschaft gilt die eine als Bürgerschreck, der andere als Parteisoldat. Jetzt arbeiten Sie als Klubchefs für Türkis-Grün zusammen – welches Bild hatten Sie bis dahin voneinander?

Maurer: Du kannst ruhig ehrlich sein!

Wöginger: Früher fiel mir die Sigi als kritische, aber stets sachliche Abgeordnete im Umgang mit Wissenschaftsministern auf. Heute kann ich sagen: Sie ist eine g’scheite, junge Politikerin.

Maurer: Als Oppositionspolitikerin hat man natürlich eine größere Distanz zu den Regierenden – eine konkrete Vorstellung hatte ich vom Gust aber nicht.

STANDARD: Seit Amtsantritt von Türkis-Grün trommelt die ÖVP fast täglich das Migrationsthema: Kopftuchverbot bis 14, weiterhin Nein zum UN-Migrationspakt, Asylzentren an der Grenze, Sicherungshaft für potenziell gefährliche Asylwerber: Früher hätten die Grünen dagegen doch lautstark protestiert?

Maurer: Ich gebe zu: Natürlich ist das ein Transformationsprozess für die Grünen als Partei, als Klub. Da ich in den Koalitionsverhandlungen mit dabei war, war uns aber schon klar, dass diese Themen für die ÖVP weiterhin eine zentrale Rolle spielen.

Wöginger: Man muss aber auch sagen, wir haben sechs große Kapitel verhandelt auf 326 Seiten – und in Interviews wird man stets zum Sicherheitskapitel gefragt, nicht nach den Plänen zur Transparenz, nicht zu den Plänen zur Pflege.

ÖVP-Klubchef Wöginger konstatiert, dass die Medien die neuen Koalitionäre vor allem zum Sicherheitskapitel fragen. Grünen-Klubchefin Maurer dagegen meint, dass die türkise Regierungsriege das Migrantenthema auch selbst recht gern akzentuiert.
Foto: Matthias Cremer

STANDARD: Also sind die Medien daran schuld, dass die ÖVP ständig mit Verschärfungen gegen Ausländer in die Schlagzeilen gerät?

Wöginger: Wir bekommen immer nur diese Fragen.

Maurer: Na ja, es könnte schon auch damit zu tun haben, dass diese Themen von den neuen ÖVP-Ministerinnen und -Ministern immer sehr prominent platziert werden.

STANDARD: Angesichts der geplanten Sicherungshaft meinen Juristen, ohne Grundrechtseinschnitte geht das nicht. Im Februar 2019 hat Grünen-Chef Werner Kogler unter Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) bei einem Flashmob noch erklärt, damit marschiere man in Richtung "Polizeistaat".

Maurer: Ich sage ganz offen: Anders als beim Klimaschutz, wo wir uns klar durchgesetzt haben, gibt es im Migrationskapitel des Regierungsprogramms eine blassere grüne Handschrift. Zählen tut das Gesamtpaket: Wir sind angetreten für saubere Umwelt, saubere Politik und soziale Gerechtigkeit.

STANDARD: Wollten Sie beim Umweltbereich nichts hergeben – ist das korrekt?

Wöginger: So ist das nicht richtig. Aber wir haben es anders gemacht als früher mit der SPÖ: Das war immer ein Wegschneiden von Positionen, und dann ist etwas übrig geblieben, sodass sich beide Parteien nicht mehr wiedergefunden haben. Diesmal lief es anders: Beide Parteien haben im jeweiligen Kräfteverhältnis das bekommen, wofür sie vor allem gewählt worden sind. Das ist bei den Grünen der Klimaschutz – und da sind nun detaillierte Maßnahmen im Regierungsprogramm, die man früher nie gefunden hat.

STANDARD: Wir waren eigentlich bei der Sicherungshaft: Sie haben betont, dass dafür eine Verfassungsänderung notwendig wäre – das wollen die Grünen nicht. Was, wenn Sie nicht handelseins werden – die FPÖ stünde ja schon bereit?

Wöginger: Wir haben eine verfassungskonforme Regelung vereinbart auf Basis der europäischen Menschenrechtskonvention. Wichtig ist, dass wir beide handelseins werden.

STANDARD: Bis wann ungefähr?

Maurer: Die Zeit, die es braucht, braucht’s.

Wöginger: So ist es.

Maurer: Die Sicherungshaft ist kein Projekt der Grünen, es ist eines der ÖVP. Wir haben es in dieser Frage nicht eilig.

STANDARD: Der grüne Sicherheitssprecher Georg Bürstmayr beruhigt, die Maßnahme werde eh nur "in seltenen Fällen" zur Anwendung kommen. Das sagt ein Mandatar einer laut Eigendefinition Menschenrechtspartei!

Maurer: Ich kenne den Kontext jetzt nicht. Natürlich geht es bei Grundrechten nicht um die Frage, wie viele Menschen davon betroffen sind. Die Grundrechte müssen eingehalten werden. Und wir schauen uns mit Experten an, ob es rechtliche Lücken gibt und was für eine allfällige Schließung notwendig ist.

STANDARD: Türkis-Grün hat im Nationalrat nur eine geringe Mehrheit. Wenn fünf Abgeordnete ausscheren, kommt ein Gesetz nicht zustande. Michel Reimon hat bereits angekündigt, einer Verfassungsänderung für die Sicherungshaft nicht zuzustimmen. Wie wollen Sie den Klub zusammenhalten?

Maurer: Keine Verfassungsänderung ist ohnehin grüne Linie. Als Klubobleute werden wir dafür sorgen, dass vor den Beschlüssen alle unsere Abgeordneten eingebunden sind.

STANDARD: Die ÖVP kennt das Problem mit Abweichlern ja nicht?

Wöginger: Wir haben eine Klubtreue!

STANDARD: Da müssen Sie jetzt selbst lachen.

"Es wird mit den Abgeordneten alles diskutiert. Solange es großen Widerstand gibt, landet die Materie nicht im Parlament", verspricht Grünen-Klubchefin Maurer etwa rund um die Sicherungshaft. Ihr ÖVP-Pendant Wöginger hingegen kann auch bei heiklen Materien auf "Klubtreue" zählen.
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Wöginger: Im Ernst: Intern gibt es auch bei uns viel Diskussion, aber dann gehen wir mit einer Meinung raus. Was ist daran schlecht?

Maurer: Es wird mit den Abgeordneten alles diskutiert. Solange es großen Widerstand gibt, landet die Materie nicht im Parlament.

STANDARD: Was halten Sie von "Klubtreue"?

Maurer: Das ist bei uns ein bisserl anders. Auch im Europäischen Parlament gibt es bei den Grünen keinen Klubzwang, und es ist trotzdem die Fraktion, die am einheitlichsten abstimmt. Im Laufe der Legislaturperiode wird es dort und da Punkte geben, wo es auch Gegenstimmen gibt.

Wöginger: Wichtig ist, wenn alles ausdiskutiert ist, dass dann die Mehrheit gegeben ist.

STANDARD: Mit den anderen Fraktionen im Nationalrat wird grundsätzlich nicht so viel geredet?

Maurer: Das stimmt. In der Oppositionszeit bin ich ehrlicherweise gar nicht wirklich auf die Idee gekommen, intensiv Gespräche zu suchen, weil man meist in Frontstellung ist: Regierung versus Opposition – das erleben auch wir jetzt ganz stark.

Wöginger: Also, ich kenne viele Abgeordnete aus den anderen Fraktionen. Auch deswegen, weil ich schon länger im Haus bin und weil wir mit mehreren Parteien schon koaliert haben. Ich habe gute Bekanntschaften mit der SPÖ, mit der FPÖ sowieso – und jetzt eben auch mit den Grünen.

Abstimmung steht an: Maurer und Wöginger springen auf, eilen ins Plenum. Nach circa zehn Minuten geht das Gespräch weiter.
Foto: Matthias Cremer

STANDARD: Derzeit muss sich Justizministerin Alma Zadić nach Sigi Maurer mit Hasspostings herumschlagen. Waren Sie über die Heftigkeit der Angriffe überrascht?

Wöginger: Leider nein – aber es ist abscheulich und zu verurteilen.

Maurer: Insbesondere bei jungen, exponierten Frauen sind solche Angriffe Standard. Deshalb haben wir auch im Regierungsprogramm verankert, dass wir in diesem Bereich Maßnahmen setzen.

Wöginger: Wir haben das schon in der Vorgängerregierung diskutiert.

STANDARD: Herausgekommen ist dabei aber nicht viel.

Wöginger: Wir sind nicht mehr dazugekommen – und stehen zu den jetzigen Plänen.

Maurer: Jetzt soll es bei den Strafverfolgungsbehörden eine Ermittlungspflicht geben, dazu wollen wir bei den Staatsanwaltschaften die Ressourcen bündeln.

STANDARD: Maurer hat einen ihrer Hassposter geoutet. Wie fanden Sie diese Vorgangsweise?

Wöginger: Es hat sicher mitgeholfen, dass da etwas in Bewegung kommt.

Maurer: Das sehe ich auch so, aber standardmäßig würde ich so ein Vorgehen nicht empfehlen.

STANDARD: Als frühere Aufdeckerpartei haben Sie mit der ÖVP gerade den von SPÖ und Neos eingesetzten Ibiza-U-Ausschuss zurechtgestutzt.

Maurer: Zunächst: Ein Kernstück grüner Errungenschaften im Parlament war, dass wir U-Ausschüsse als Minderheitsrecht erkämpft haben. Die einzige Bedingung für die Zustimmung der anderen Parteien war, dass der Untersuchungsgegenstand verfassungskonform definiert ist. Bereits am 19. Februar können die ersten Akten geliefert werden und die ersten Sitzungen stattfinden.

Wöginger: Ich habe das Minderheitsrecht damals mit verhandelt. Und seitdem gilt: dass es beim Ausschussverlangen um abgeschlossene Vorgänge in der Bundesverwaltung gehen muss. SPÖ und Neos wollen jetzt aber 60 Prozent aller Regierungsvorlagen (unter Türkis-Blau, Anm.) untersucht wissen. Das ist überschießend und gegen die Regeln.

STANDARD: Trotz der Postenschacherfantasien von Ex-FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache auf Ibiza haben Sie den beiden Oppositionsparteien auch die Organbestellungen in Unternehmen mit Bundesbeteiligung weggestrichen, Ausnahme: die Casinos Austria. Wozu diese Gängelei?

Maurer: Darum geht es nicht. Darüber muss nun der Verfassungsgerichtshof als Schiedsinstanz entscheiden. Uns geht es darum, dass dieser U-Ausschuss nicht zu einem Wald-und-Wiesen-Ausschuss verkommt.

STANDARD: Wenn das Höchstgericht SPÖ und Neos recht gibt ...

Maurer: Dann ist es auch gut.

STANDARD: ... dann ist doch Ihre Marke als Transparenzpartei ruiniert.

Maurer: Ich sehe die Problematik. Doch ein Teil unserer Glaubwürdigkeit ist auch die Wahrung des Rechtsstaats und der Verfassung.

Wöginger: Einst war es auch der SPÖ recht, dass es diese Verfahrensordnung gibt. Es ist gut, dass nun der Verfassungsgerichtshof angerufen wird, dann wissen wir, wer recht hat.

STANDARD: Im Wahlkampf haben Sie im Bierzelt gepoltert, dass es nicht sein kann, dass "unsere Kinder nach Wean fahren" und als Grüne zurückkommen. Sigi Maurer kam einst aus dem tiefschwarzen Tirol nach Wien. Wollen Sie am Ende, dass sie als Türkise zurückkehrt?

Wöginger: Die Sigi? Das halte ich für sehr unrealistisch.

Maurer: Ja, Gust, das wird nichts! Als ich den Satz das erste Mal gelesen habe, dachte ich: "Na servas, das ist ein Autoritätsverständnis!" Dann habe ich mir die gesamte Rede angesehen und da war mir klar: Das war ein gut platzierter Schmäh.

Wöginger: Das war vor 3500 Funktionären, und ich hatte die Rolle des Stimmungsmachers. Und dass die eigenen Kinder uns wählen sollen, ja, das wird man ja noch probieren dürfen. (Peter Mayr, Nina Weißensteiner, 25.1.2020)