STANDARD: Ihr aktueller Roman ist der Brief eines Holocaust-Forschers, der Besuchergruppen durch ehemalige Konzentrationslager in Polen führt, an den Direktor von Yad Vashem. Wie haben Sie dafür recherchiert?

Sarid: Lange bevor ich wusste, dass ich ein Buch über den Holocaust und die Gedenkkultur schreiben werde, habe ich viel über den Holocaust gelesen, Geschichtsbücher, Erinnerungen von Zeitzeugen, Philosophiebücher zum Thema, Biografien von Nazi-Verbrechern und vieles mehr. Vor einigen Jahren habe ich eine Reise zu den Todes-Camps nach Polen gemacht. Das war eine sehr harte und emotional schwierige Erfahrung für mich.

Yishai Sarid: "Das Einzige, was wir machen können, ist, das Leben der Opfer zu respektieren und nicht nur ihren Tod."
Foto: Katarina Ivanisevic

STANDARD: Gibt es Bücher, die Sie empfehlen, wenn sich Menschen mit dem Holocaust beschäftigen wollen?

Sarid: Die Vernichtungsjahre von Saul Friedländer, eine sehr gute Aufarbeitung der Geschichte des Holocaust, Der letzte Jude von Treblinka von Chil Rajchman, ein furchtbares Zeugnis der Tötungsmaschinerie, und natürlich Ist das ein Mensch? von Primo Levi, sein berühmter autobiografischer Bericht über das KZ Auschwitz.

STANDARD: Auf der Buch Wien im November haben Sie gesagt, dass es nach dem Holocaust, nach der Ermordung von sechs Millionen Juden für Betroffene nicht viel an Katastrophen- oder Traumahilfe gab …

Sarid: Für jüdische Menschen gab es keine Zeit der emotionalen Heilung. Nur ein paar Jahre nach dem Holocaust mussten wir im Israelischen Unabhängigkeitskrieg um unsere Existenz kämpfen. Der Holocaust ist eine offene Wunde, und diese Wunde wird wahrscheinlich für immer bleiben. Das Einzige, was wir machen können, ist, das Leben der Opfer zu respektieren und nicht nur ihren Tod – und zu versuchen, Lehren aus dem Krieg zu ziehen, was wir leider aus dem Blick verlieren, je länger der Krieg zurückliegt.

STANDARD: Sie sagen, Ihr Buch erzählt die Wahrheit. Es verschweigt und versteckt nichts. Ich würde sogar sagen, es berührt eine Menge Tabus, zum Beispiel, dass sich der Roman auch kritisch über die israelische Gedenkkultur äußert. Wie schwierig war das für Sie im Schreibprozess?

Sarid: Es war schwierig. Aber es macht keinen Sinn, mich beim Schreiben selbst zu zensieren. Aber nachdem das Buch erschienen ist, bin ich manchmal selbst erschrocken über das, was ich geschrieben habe. Ich bin beim Schreiben viel mutiger als in meinem alltäglichen Leben.

STANDARD: Sind Gedenktage wie "75 Jahre Befreiung von Auschwitz" jetzt am 27. Jänner wichtig für die Erinnerungskultur?

Sarid: Wir sollen solche Termine wahrnehmen, aber die Art und Weise, wie das gemacht wird, ist viel zu formell und seelenlos, als es sein sollte. Es wird das Geschäft von Regierungen und Politikern, aber das ist nicht genug.

STANDARD: Was würden Sie am Holocaust-Tourismus und an der Holocaust-Gedenkkultur in Polen verändern?

Sarid: Ich würde die Touren in Berlin starten lassen, um den Jugendlichen zu zeigen, wo alles angefangen hat, wo die sozialen und politischen Wurzeln des Nationalsozialismus liegen. Ich würde den Schwerpunkt mehr auf jüdisches Leben in Europa und nicht nur auf den letzten Akt der Vernichtung in Polen legen. Ich würde israelische und polnische Jugendliche zusammenbringen, damit sie sich über jüdisches Leben und die Vernichtung der Juden in Polen austauschen können.

STANDARD: Haben Sie Familienmitglieder im Holocaust verloren?

Sarid: Die Großeltern meines Vaters wurden alle umgebracht und einige seiner Onkel und Tanten. Auch die Großeltern meiner Frau und ein Onkel wurden ermordet.

STANDARD: Waren Sie selbst als Schüler in Polen so wie die Schülergruppen, die in Ihrem Roman beschrieben werden?

Sarid: Ja, ich war 1983 mit den ersten Holocaust-Gedenkreisen in Polen, damals gab es Gedenkfeiern zu 40 Jahre Aufstand des Warschauer Ghettos. Als ich nach Hause fuhr, hatte ich nur eine Lektion gelernt: dass wir stark sein müssen, damit so etwas nie wieder passieren kann. Das ist eine wichtige Lektion aus der Geschichte, aber es sollte nicht die einzige sein. Der Holocaust muss uns eine konstante Erinnerung sein, wie wir mit anderen Menschen umgehen, er sollte eine Warnung gegen Rassismus und Nationalismus sein. Mit 18 ist das nicht so einfach zu verstehen.

Yishai Sarid, "Monster". Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. € 21,60 / 176 Seiten. Kein-&-Aber-Verlag, 2019
Foto: Kein-&-Aber

STANDARD: War Ihr eigenes Kind auch schon mit der Klasse in Polen?

Sarid: Nein, die Schule meiner Tochter hat beschlossen, diese Reisen nach Polen nicht mehr zu machen. Anstatt dessen machen sie eine Holocaust-Gedenkwoche in Israel, in der sie Zeitzeugen und Zeitzeuginnen treffen und Museen besuchen.

STANDARD: Was wird passieren, wenn es keine Zeitzeugen und -zeuginnen mehr gibt?

Sarid: Es wird viel schwieriger werden, neuen Generationen den Holocaust zu erklären, es wird alles viel abstrakter für junge Menschen werden. Es wird eine wichtige Aufgabe der Kunst sein, das Gedenken lebendig zu erhalten, nicht nur in Geschichtsbüchern und an formellen Gedenktagen, sondern in den Herzen der Menschen.

STANDARD: Bei Ihrem Wien-Besuch sagten Sie: "Wir stehen nicht auf derselben Seite der Geschichte. Auf der einen Seite sind die Mörder, auf der anderen die Opfer." Sie sehen das gute Verhältnis zwischen Israel und Deutschland auch kritisch. Warum?

Sarid: Es ist gut, dass es ein gutes Verhältnis gibt, weil Hass und Vergeltung nicht hilfreich sind. Aber manchmal empfinde ich diese Nachkriegs-Liebesbeziehung zwischen Israelis und Deutschen als zu viel – und zu früh. Aber vielleicht ist das mein persönliches Problem. Aber ich kann keinen Spaß in Berlin haben, obwohl ich dort von Zeit zu Zeit für Lesungen hinfahre. Im Schwarzwald Urlaub zu machen oder nach Österreich zum Skifahren zu kommen würde sich für mich komisch anfühlen.

STANDARD: Ihre Familie hat den Namen Schneider in Sarid geändert. Würden Sie etwas darüber erzählen?

Sarid: Der hebräische Name "Sarid" bedeutet "Rest". Mein Großvater änderte seinen Familiennamen von Schneider zu Sarid sofort nach dem Krieg, weil beinahe seine ganze Familie in Europa ermordet wurde und auch deshalb, um so an sie zu erinnern.

STANDARD: Ihr Buch "Monster" ist in Israel 2017 erschienen. Gab es Reaktionen, zum Beispiel von Yad Vashem?

Sarid: Mein Buch wurde in der Öffentlichkeit sehr gut aufgenommen. In Yad Vashem mochte man es nicht. Es war in deren Augen zu kritisch. (Mia Eidlhuber, ALBUM, 26.1.2020)