Hallstatt: Der beschauliche Ort wurde zum Synonym für Overtourism in Österreich.

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In Schloss Schönbrunn kommen die meisten Touristen schon aus China.

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Die Wachau hat ein generelles Problem mit Touristen die per Flusskreuzfahrtschiff kommen.

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Nach der Hochzeit zweier chinesischer TV-Stars haben die Chinesen auch das Schloss Belvedere für sich entdeckt.

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Ein Blick in die Getreidegasse legt das nicht nahe: Salzburg ist nur die drittmeiste besuchte Stadt in Österreich. Zumindest was chinesische Touristen betrifft.

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Am Mittwochnachmittag vor dem Café Central in der Wiener Innenstadt: Wie so oft in den vergangenen Monaten hat sich draußen eine Menschenschlange gebildet. Über Art und Herkunft der Schlange lässt sich oberflächlich sagen: Es ist eine lange, und sie kommt aus Asien. Zwei Wienerinnen um die sechzig, die das Warten auf einen freien Tisch aufgeben, scheinen es aber genau zu wissen: "Das sind ja Zuständ’ wie in Hallstatt – jetzt ist Wien auch schon voll mit Chinesen!"

Tatsächlich stammen ein paar Geduldige aus der Metropolregion Shenzhen. Sie haben eine zweistündige Führung hinter sich und verfügen noch über eine weitere Stunde auf ihrem Sightseeingzeitkonto für Wien, ehe es weitergeht in die nächste Stadt. Mit dem Kaffeehausbesuch wollen sie sich, wie sie höflich preisgeben, ein "besonderes Erlebnis" gönnen.

Wenige Hotspots

In einer Sache haben sich die Damen vor dem Central dennoch geirrt: Noch ist Wien nicht "voller Chinesen", die meisten kommen erst. Die Begegnung mit der ihrer Meinung nach invasiven Art ereignete sich drei Tage vor dem chinesischen Neujahr. Das Jahr der Ratte beginnt heuer am 25. Jänner, die Feierlichkeiten dauern 15 Tage. Dann ist auch das Gros der chinesischen Touristen in Wien zu erwarten. Traditionell wird die wichtigste Ferienzeit im Jahr für Verwandtenbesuche genutzt. Doch immer mehr Chinesen entscheiden sich für eine Auslandsreise. Gar nicht selten führt diese nach Österreich.

Etwas mehr als eine Million Chinesen pro Jahr reisen derzeit in die Heimat von Sisi und Mozart. Das ist nicht viel für ein Land mit jährlich 45 Millionen Touristen. In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Anzahl der chinesischen Österreich-Besucher allerdings versechsfacht. Bis dato verteilen sie sich auf wenige Hotspots. In Wien sind das Schönbrunn und der erste Bezirk, Innsbruck und Salzburg kommen infrage. Hallstatt und die Wachau gelten, gemessen an absoluten Besucherzahlen, schon fast als Geheimtipp. Man fragt sich: Warum ist das so? Warum beschränkt sich das Interesse auf so wenige Punkte? Lesen die Chinesen alle dieselben Reiseführer? Eine, die es wissen muss, ist Chieh-Ying Hsu.

Spareribs?

Die Wienerin führt seit 30 Jahren Touristen durch die Stadt, oft Chinesen. Gerade hat sie eine zweistündige Tour hinter sich, die in 90 Prozent der Fälle so aussieht: Zuerst geht’s ins Schloss Schönbrunn, von dort per Bus zum Michaelerplatz, wo der Sprint durch die Innenstadt beginnt.

Beim Essen danach, das oft in Lokalen wie dem Wiener Kavalier in der Ballgasse eingenommen wird, ist sie schon nicht mehr dabei. Sie will nicht mitansehen müssen, wenn Chinesen Spareribs als typische Wiener Spezialität kredenzt bekommen. Spareribs? Frau Hsu weiß auch nicht, warum gerade dieses Gericht, mutmaßt aber: "Eine asiatische Airline hat einmal behauptet, in Wien müsse man unbedingt Spareribs essen."

Sisi-Gehirnwäsche

Dem gedruckten Reiseführer spricht sie in China fast jede Relevanz ab. "Manche kennen die Sisi-Filme auswendig, andere beziehen Klischees aus dem Internet und aus sozialen Medien. Es ist wie eine Gehirnwäsche." Die Reisegruppen, die sie häufig von Veranstaltern vermittelt bekommt, hätten kein Mitspracherecht bei dem, was sie in Wien zu sehen bekommen. Das Programm für wenige Stunden in Wien entscheiden ausschließlich die Reisebüros.

Früher, meint Frau Hsu, sei sie noch von Gästen gefragt worden, wo sie nach der Tour shoppen könnten. Heute suchen sie sich die Adresse etwa der Louis-Vuitton-Boutique in den Tuchlauben schon daheim in China via Internet heraus und stellen sich dann sofort nach der Führung vor dem Geschäft an. Dieses klischeehafte chinesische Reiseverhalten, das Frau Hsu beschreibt, entspricht aber nur mehr der halben Wahrheit.

Emanzipation von Gruppenreisen

Fast die Hälfte der chinesischen Touristen in Österreich sind Individualreisende. Weltweit gesehen ist der Anteil sogar noch höher: Laut Chinese International Travel Monitor, den das Buchungsportal Hotels.com veröffentlicht, reisen schon zwei Drittel aller Chinesen allein oder im Familienkreis. Eine kleine Sensation. Ein Volk, das in großem Stil erst seit zehn Jahren Auslandsreisen unternimmt, emanzipiert sich innerhalb so kurzer Zeit von den Zwängen der Gruppenreise.

Am Beispiel von Wien bedeutet das: Nun werden auch Orte wie das Belvedere besucht. Aber war um gerade dieser Ort? Die TV-Superstars Tiffany Tang und Luo Jin gaben sich dort medienwirksam das Jawort. Bilder davon, die über den chinesischen Messagedienst Wechat verbreitet wurden, beeinflussen das Reiseverhalten junger Chinesen mehr denn je.

Im Luxussegment präsent

Aktuell gilt: Chinesen in Österreich frequentieren mehrheitlich Vier- und Fünfsternehotels, sie bleiben länger als früher und geben von allen außereuropäischen Reisenden pro Kopf und Tag am meisten (rund 400 Euro) aus. Das Mehr an Individualreisenden fällt auch im Luxushandel auf.

Astrid Stüger-Hübner vom Uhrmachermeister Hübner am Wiener Graben sagt, dass chinesische Kunden ganz ohne Reiseführer und Abkommen mit Veranstaltern zu ihr fänden: "Chinesische Kunden interessieren sich für Marken und recherchieren im Internet die regionalen Vertretungen. Sie wissen genau, was sie wollen, nehmen oft schon von zu Hause aus Kontakt mit uns auf und fragen, ob ein bestimmtes Modell vorrätig ist, wenn sie nach Wien kommen."

Hohe Internet-Affinität

Emanuel Lehner-Telič, der für die Österreich Werbung den asiatischen Markt von Peking aus bearbeitet, betont die emanzipatorische Leistung der Chinesen: "Sie ändern ihr Reiseverhalten gerade völlig. So höre ich etwa immer öfter: Wir wollen auf keinen Fall dorthin, wo schon viele andere Chinesen sind." Auf Wechat und chinesischen Reiseportalen wie Trip.com (vormals Ctrip) müsse man wegen der hohen Internet-Affinität dieser Nation nun präsent sein. Diese Kanäle eröffnen auch Möglichkeiten, alternative Reiseziele wie den Neusiedler See vorzustellen und so indirekt Besucherströme zu lenken.

Peter Zellmann, Leiter des Instituts für Freizeit- und Tourismusforschung, warnt vor einem gastunfreundlichen Schubladendenken: "Es gibt nicht den chinesischen, deutschen, italienischen Durchschnittsgast." In solchen Mustern zu denken sei "kompletter Unsinn" und schüre nur Vorurteile. "Eben dass Horden von Asiaten in Österreich einfallen. Was nicht stimmt."

Das Phänomen Hallstatt, Sehnsuchtsort für viele asiatische Touristen im Salzkammergut, erklärt sich für Zellmann über das Unterbewusstsein: "Hallstatt hat in China einen Stellenwert. Man hat von diesem Ort gehört. Besucht man dann Österreich, ist das Salzkammergut-Idyll präsent. Ähnlich wie bei Mozartkugeln. Man kennt die Schokokugerln, auch wenn man noch nie eines gegessen hat."

Schlagwort-Allergie

Auf das vielzitierte Schlagwort Overtourism reagiert Zellmann allergisch: "Reißerische Schlagworte bringen niemandem etwas. Da entspannt sich keine angespannte Tourismussituation." Wachstum sei eben so lange gut, bis es zu viel Wachstum gebe. Dieser Problematik könnten sich betroffene Orte nur in Eigenregie stellen.

Zellmann: "Ratschläge von außen sind schön und gut, letztlich kann aber nur die Bevölkerung vor Ort entscheiden, wie schmal der Grat im Tourismus ist." Auch gebe es kein Patentrezept: "Einfach weil man Venedig nicht mit Hallstatt vergleichen kann. In der Diskussion wird aber oft alles in einen Topf geworfen."

Tagestouristen

Auf dem Weg zu einem gedeihlichen Miteinander sei Gelassenheit angesagt. Zellmann: "Die Menschen müssen in Ruhe überlegen, was sie wollen. Tourismusströme zu lenken braucht Zeit." Aber ebendieser Sinn für Ruhe sei vielen abhandengekommen: "Wir haben es verlernt, einen moderierten, aber ergebnisoffenen Prozess zu führen. Die Menschen hören heute auf einen politischen Führer, der die Richtung vorgibt."

Ohne Bürgerbeteiligung wird es für Orte, die unter dem Tourismus stöhnen, jedenfalls keine Lösung geben. Während man sich in Hallstatt für noch mehr chinesische Tagestouristen, die noch nichts vom veränderten Reiseverhalten der Chinesen gehört haben, rüstet, sieht man sich in der Wachau mit anderen Touristenmassen konfrontiert. Sie strömen über den Wasserweg in die Weltkulturerbe-Region. Konkret setzt die steigende Zahl an Donaukreuzfahrt-Passagieren den Einheimischen mehr und mehr zu. Viele wollen die Situation nun nicht mehr so einfach hinnehmen.

Dramatische Situation

Der "Arbeitskreis zum Schutz der Wachau" hat sich zum Ziel gesetzt, die Einzigartigkeit der Wachau als Natur- und Kulturlandschaft zu bewahren. Das Bewusstsein dafür soll bei der einheimischen Bevölkerung genauso wie bei den Gästen gestärkt werden. Was nicht immer leicht ist.

"Die Situation ist dramatisch. Immer mehr Menschen kommen mit Kreuzfahrtschiffen. Besonders Dürnstein ist betroffen. Die Bewohner müssen schon die Türen zusperren, weil Touristen einfach ins Haus gekommen sind und die Bewohner beim Essen fotografiert haben", schildert Christian Hirtzberger, Jurist und stellvertretender Obmann des Arbeitskreises.

Kein Gewinn aus Souvenirs

Das Problem sei, dass die Wertschöpfung für die Region "gleich null" ist. Hirtzberger: "Man macht das Geschäft mit unserer Landschaft, aber uns bleibt nur der Dreck. Den Gewinn streifen andere ein, denn selbst Souvenirs werden direkt auf den Schiffen verkauft." Und da Schiffe dem Flaggenstaat zugeordnet würden, gelte für sie in Österreich Steuerfreiheit. Hirtzberger: "Sie unterliegen auch nicht unseren Arbeitszeit- und Gewerberegeln. Das führt zu Wettbewerbsverzerrung." Mancher Gastronomiebetrieb kämpfe ums Überleben, aber die Politik juble: "Man sieht die Zahlen, die Masse – und ist zufrieden."

Eine Forderung der Wachauer Reformgruppe ist daher, Bus- und Schiffstouristen zur Kassa zu bitten. Hirtzberger: "Die Gäste sollen bis zu 15 Euro pro Person zahlen. So viel ist ein Besuch unserer wunderschönen Region auf jeden Fall wert." Vermutlich auch den meisten Chinesen. Über diese verlieren die Wachau-Schützer übrigens kein schlechtes Wort – obwohl auch einige für nur wenige Stunden per Schiff kommen. (Sascha Aumüller, Markus Rohrhofer, 25.1.2020)