Die Seniorenpflegerin Mechbube Abla in ihrem Zuhause in Linz. In ihrer rechten Hand hält sie ein Foto ihres Bruders, in ihrer linken eines ihrer Eltern. Seit drei Jahren sind sie inhaftiert.

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Uiguren im Exil bangen um das Schicksal ihrer Familien in China. Mit Protesten versuchen sie, den Druck auf die chinesischen Behörden zu erhöhen.

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Die Hochzeitsgesellschaft im Hayal Dügün Salonu im 23. Wiener Gemeindebezirk ist auf zwei Saalhälften aufgeteilt: Links sitzen rund 80 Männer in Frack und Smoking, rechts genauso viele Frauen in bunten Kleidern, teils mit kunstvollen Stickmustern und passendem Kopftuch. Woher sie das Brautpaar kennen? "Wir sind eine große Familie", sagt die Uigurin Mechbube Abla augenzwinkernd.

Wirklich verwandt sind nur die wenigsten. Aber sie alle haben kaum oder keinen Kontakt zur eigenen Familie in ihrer Heimat Ostturkestan, der chinesischen Provinz Xinjiang. Als Abla 2005 zum Studieren nach Wien kam, lebten gerade einmal fünf Uiguren in Österreich. Seit etwa drei Jahren hat sich ihre Zahl potenziert – heute sind es rund 300 Menschen, die hier Zuflucht gefunden haben.

Die Volksrepublik China hat in Xinjiang in kürzester Zeit eine erschütternde Anzahl an "Umerziehungslagern" aufgebaut. Die Uiguren, eine muslimische Minderheit, soll dort umerzogen werden, weil sie angeblich mit religiösem Extremismus infiziert ist. Circa eine Million der 23 Millionen Einwohner der Provinz sind laut Schätzungen aktuell in solchen Lagern untergebracht. China dementiert das: Es handle sich um "Berufsschulen" oder "Weiterbildungseinrichtungen", beteuerte die Kommunistische Partei 2018.

Spurloses Verschwinden

Einer, der eine sogenannte Berufsschule "besucht", ist Ablas Bruder. Ihr letztes Gespräch fand im April 2017 statt. Der 21-Jährige richtete gerade den Garten im Elternhaus für den Frühling her. Drei Tage später klopfte die Polizei nachts an die Tür, stülpte ihm eine Tüte über den Kopf und nahm ihn mit. Im September 2017 wurde die Mutter abgeholt, vier Wochen danach der Vater. Seither fehlt jede konkrete Spur von ihnen. Über Umwege konnte Abla in Erfahrung bringen, dass sie zwischen einem Umerziehungslager und Gefängnissen hin- und hergeschoben werden.

"Meine Eltern haben ihr Leben lang gearbeitet, welche Umerziehung benötigen sie in der Pension?", so Abla. Es sei ein Vorwand, um ihnen den Kopf zu waschen und die kulturelle Identität zu rauben: "Du wirst Chinese, sonst hast du kein Recht auf ein Leben in Würde" sei die Botschaft.

Von den wenigen, die ein solches Lager lebend ins Ausland verlassen haben, hat Abla Schreckliches über die Zustände gehört: Folter, Vergewaltigung, Zwangsmedikation und Zwangsarbeit. Der Gedanke daran, was ihr Bruder und ihre Eltern erleiden könnten, habe sie in eine Depression gestürzt. Monatelang betete, schlief und weinte sie nachts vor ihrem Wohnzimmerfenster.

Auch Israfil Atawulla hat Grund zur Trauer. Kaum war er im Februar 2019 in Österreich angekommen, erfuhr er vom Tod seiner Mutter (62) in einem Lager. Er hatte seit 2016 keinen Kontakt mehr zu ihr gehabt. Die Nachricht kam von einem Freund, der damit viel riskierte. Alles, was er weiß, ist, dass sein Vater und sein Bruder, die auch in Lagern waren, einen Tag freibekommen hatten, um die Mutter zu bestatten.

Im September kam dann die nächste Nachricht: Sein Vater (81) war ebenfalls verstorben. "Er war eine sehr ruhige Person", versucht Atawulla zu verstehen, warum das seiner Familie passiert. "Er hat sich überhaupt nicht mit Politik oder Religion befasst."

Wo die Überreste seiner Eltern sind, weiß er nicht. Nur wenige Familien bekommen die Leichen ihrer Angehörigen. Sie dürfen sie aber nicht nach islamischer Tradition bestatten, sondern müssen sie nach chinesischer Tradition verbrennen. Auch wo sein Bruder jetzt ist, weiß er nicht.

Transformation im Lager

Abdelkerem Yasen weiß, wo seine Frau und zwei Kinder sind. Aber nicht, ob er sie jemals wiedersehen kann. Er hat mehrere Familienfotos am Handy: Seine Frau, die ein weißes Kopftuch trägt, strahlt in die Kamera. Nur auf dem letzten Bild ist sie kaum zu erkennen: Es zeigt sie mit kurzen Haaren und in kurzen Shorts. Ihr Blick geht ins Leere, während die Kinder – sie sind vier und fünf Jahre alt – an ihr hochspringen.

Das war ihr erster Besuch bei den Kindern nach drei Jahren im Lager, sagt Yasen mit schmerzverzerrter Stimme. Er habe gehört, dass sie nun in einer Textilfabrik Zwangsarbeit verrichten müsse. Yasen traut sich nicht, sie zu kontaktieren. Er will den Behörden keinen Grund liefern, sie noch mehr zu misshandeln. Zurückkehren ist auch keine Option: Man würde ihn wegsperren, ist sich Yasen sicher.

Zuvor hat er in Kairo Theologie studiert. So sei die Familie ins Visier der Behörden geraten. Chinesische Beamte hätten sogar Festnahmen in Ägypten durchgeführt. Er konnte rechtzeitig fliehen.

Osman kam mit ihrem Sohn vor drei Jahren nach Wien.
Foto: Anna Sawerthal

Nurgui Osman und ihr Sohn waren zur selben Zeit in Kairo. Sie sind bereits seit Jahren auf der Flucht. Staatliche Repression und Schikane haben ihre Leben gezeichnet: Von der Schule bis hin zu ersten Arbeitserfahrungen musste Osman immer schlechtere Optionen in Kauf nehmen als ihre chinesischen Kollegen, erzählt sie. Kurz nachdem sie den gemeinsamen Sohn zur Welt gebracht hatte, wurde ihr Mann 2003 aus fadenscheinigen Gründen inhaftiert. Warum? "Er hat eben den Koran studiert, einen Bart getragen und einfach seine Religion ausgeübt." Mustafa hat seinen Vater nie kennengelernt.

Als die Polizei 2013 vermehrt nach Osman fragte, ging sie mit dem Sohn nach Ägypten. Vor dem langen Arm der chinesischen Behörden fühlten sie sich auch dort nicht sicher. Über Umwege kamen sie 2017 nach Wien. Hier erfuhren sie von der Festnahme des Vaters, die Mutter sei im Spital.

Die Uiguren in China wurden schon immer diskriminiert, betonen alle. Reisepässe seien für sie schwer erhältlich gewesen, und wer eine Reise wagte, stand daraufhin unter Beobachtung. Auch Verwandte im Ausland zu haben zog Einschüchterungsversuche der Polizei nach sich.

Alle Länder außer Pakistan und Malaysia tabu

Arzu Askar wollte immer schon ins Ausland. Ihre Mutter, eine Gynäkologin, wurde in Xinjiang dazu gezwungen, Abtreibungen durchzuführen, erzählt sie. Weil sie bei der Zählung der Kinder pro Haushalt manchmal schummelte und das aufflog, wurden die zwei aus ihrer Heimatstadt verbannt. Zwei Jahre dauerte es, bis Askar einen Pass in Händen hielt. Alle Länder dieser Welt waren aber für sie Tabu, außer: Pakistan und Malaysia. In Pakistan angekommen, erfuhr sie aber, dass ihre Mutter von den Behörden schikaniert wurde. Also ging sie zurück.

Askar ist mit ihrem Bruder nach Österreich gekommen.
Foto: Anna Sawerthal

Zwei Wochen wurde sie nach ihrer Rückkehr in einem Fünf-Sterne-Hotel festgehalten und verhört. Wen sie im Ausland getroffen hätte, ob sie etwas erzählt hätte, 15 Soldaten mit Maschinengewehren waren im Raum, erinnert sie sich an die traumatisierenden Tage.

Danach war kein normales Leben mehr möglich. Als 2016 eine polizeiliche Aufforderung kam, dass sie sich melden möge, schickte sie ihre Mutter endgültig ins Ausland. In Wien zeigt sie heute Fotos von ihrer Familie. Ihre Mutter konnte sich in die Türkei retten. Von der Hälfte der Menschen weiß sie aber nicht, wo sie sind.

Leichenwäsche

Abla ist mit Berichten über Folter aufgewachsen. Ihr Großvater war Leichenwäscher – ein muslimischer Brauch vor der Beerdigung. Er habe wiederholt von mit Löchern übersäten Körpern junger Männer erzählt. Aber dass die Gewalt eines Tages auch Mütter und Pensionisten treffen würde, habe niemand gedacht.

Es kam schleichend: Erst verschwanden Leute in den Dörfern, dann notierten Beamte auch vor den Moscheen in den Städten, wer zum Freitagsgebet erschien oder ein Kopftuch trug. Dann wurden Mauern rund um Schulen errichtet. Hinter deren Blickschutz wurden sie schließlich zu Lagern umgebaut. Nach offiziellen Angaben sollten dort nur Prostituierte und Drogensüchtige untergebracht werden. "Inzwischen leben alle in Angst. Ins Lager zu kommen ist ganz normal", sagt Abla unter dem Nicken der anderen. "Absurderweise freut man sich sogar, wenn Angehörige im Lager und nicht im Gefängnis landen." Ihre Mutter etwa wurde zu 19 Jahren Haft verurteilt, das sei ein langsames Todesurteil.

Das Bangen um die Verwandtschaft und das Ringen mit Trauer und Hilflosigkeit hätten die Uiguren in Österreich zu einer Familie zusammengeschweißt. Hier fühlen sich alle sicher. Mustafa geht zur Schule, Yasen und Atawulla sind im Deutschkurs, und Abla arbeitet als Pflegerin. "Der chinesische Staat will, dass wir zusammenbrechen und verschwinden", sagt Abla. "Den Gefallen tun wir ihm aber nicht."

"Wir werden weiter nach unseren Familien suchen und unsere Kultur am Leben halten", ruft Abla unter lautem Getöse. Denn das Brautpaar ist eingetroffen und wird mit uigurischer Musik in Empfang genommen. (Flora Mory, Anna Sawerthal, 26.1.2020)