An Gott kann ich nicht mehr glauben. Nicht nach meinem einjährigen Aufenthalt als Gedenkdiener in Auschwitz. Wenn man weiß, dass an jener Stelle, an der sich das eigene Zimmer befindet, einst ein Nazi wohnte, der Juden als Hausgehilfen hielt – und wenn sie ihm nicht mehr gefielen, seinen Hund auf sie hetzte, der diese dann auffraß –, tut man sich schwer, noch in Schiller’sche Oden zu verfallen.

Die Monate vergingen, in meiner Freizeit flanierte ich durch die Gedenkstätte, fuhr mit dem Shuttlebus nach Birkenau, beobachtete die Touristen oder versuchte, Gedichte zu schreiben.
Foto: Micha Pesseg

Durch Oswiecim ging ich gern spazieren. Ich setzte mich an den Fluss und warf den Enten Brotstücke zu. Wenn das Wetter schön war, blieb ich für einige Stunden im Gras sitzen, schloss die Augen und hörte mir eine Beethoven-Sinfonie an. An einem meiner ersten Tage fuhr mir eine alte Dame mit ihrem Fahrrad in den Rücken. Sie hatte zwar polnische Warnrufe ausgestoßen, aber ich war der Sprache noch nicht ausreichend mächtig, um sie als solche zu identifizieren. Die Frau lachte, obwohl sie kleine Schürfwunden hatte – ich stammelte stakkatoartig, die Betonung fälschlicherweise auf die erste Silbe legend, Przepraszam.

Ich habe die Stadt liebgewonnen, mit all ihren Schrullen und Eigentümlichkeiten. Die Einwohner trennen strikt die Stadt Oswiecim vom Konzentrationslager Auschwitz – obwohl die halbe Stadt in Fronarbeit von den Juden errichtet wurde. Obwohl sich der relative Reichtum hier zum einen aus der unter Hitler errichteten Chemiefabrik am Stadtrand ergibt, zum anderen aus dem Tagestourismus in die Konzentrationslager Auschwitz I und II.

Konservierungsabteilung

Dort, wo ich jeden Morgen, von Montag bis Freitag, den Portier in gebrochenem Polnisch begrüßt habe, steht die einzige Gaskammer, die nicht – zur Beweisvernichtung – von den flüchtenden Nazis zerbombt wurde. Ich ging über die Schotterwege, vorbei an jener Baracke, wo aufsässige Juden als Foltermaßnahme für einige Stunden, manchmal Tage an einen Fleischerhaken gehängt wurden. Die ersten Touristen marschierten bereits durch das Gelände. Ich bog rechts ab, dachte darüber nach, was ich zu Mittag essen würde, ging durch das "Arbeit macht frei"-Tor, wurde unfreiwillig zum Fotomotiv für die vorbeischlendernden Japaner, Amerikaner und Holländer, und ein paar Minuten später befand ich mich an meinem Arbeitsplatz.

Ich arbeitete in der Konservierungsabteilung. Meine Kollegen verdienten – trotz akademischer Titel – wenig, sprachen gebrochenes Englisch und zelebrierten das Mittagessen. Sie verköstigten mich mit polnischen Spezialitäten. Zumeist süße Bäckerei, manchmal eingelegte Gurken. Es wurde auch gelacht und nur selten über Auschwitz gesprochen. Wozu auch? Wir waren ja da. Wir sprechen ja zumeist über die Dinge, die nicht vorhanden sind.

Eine Schülergruppe in Auschwitz.
Foto: Micha Pesseg

Meine erste Aufgabe war es, die den Juden entwendeten Emailtöpfe zu putzen. Mit einem Skalpell schabte ich davon dünne Drecks- und Rostschichten ab. Ich arbeitete zusammen mit einer jungen griechischen Restaurationsstudentin, für die ich erste leise Gefühle entwickelte. Wir sprachen über Gustav Mahler, über polnische Hooligans und über Hermann Hesse. Nach zwei Monaten beendete sie ihr Volontariat, meines hatte gerade erst begonnen. Ein Jahr sollte ich im Auftrag des Staates Österreich als Gedenkdiener hier arbeiten.

Die Monate vergingen, in meiner Freizeit flanierte ich durch die Gedenkstätte, fuhr mit dem Shuttlebus nach Birkenau, beobachtete die Touristen oder versuchte, Gedichte zu schreiben. Ich ließ die Jahreszeiten an mir vorbeischlendern. Im Herbst war in Auschwitz ein Teppich aus goldenem Laub über das Land gebreitet. Der Winter hingegen war grauslich und bitterkalt. Weiße Schneefelder trennten mich von meinem Arbeitsplatz. Auf dem Weg zur Arbeit begegnete ich Gruppen von zitternden, schlecht gekleideten Menschen, die auf ihren Bus warteten, mit dem sie an ihren Arbeitsplatz pendelten. Ich begann, die Dohlen zu lieben. Ihre blau leuchtenden Augen bildeten einen unbegreiflichen Kontrast zum KZ.

Schwere Lektüre

Ich machte mir ein Spiel daraus, die Nationalität der Touristen anhand ihres Kleidungsstils zu erraten. Deutsche trugen meist eine unmodische Bauchtasche, Russen waren klischeehaft in dicken Pelz gehüllt, Amerikaner traf man nur selten an, ohne dass sie sich ein Eis ins Maul stopften oder ein Coke in sich hineinleerten. Ich selbst fühlte mich am Geschehen unbeteiligt.

Wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, gab ich mich schwerer Lektüre hin. Ich las Berichte der Zeitzeugen, auch Kriminalromane oder romantische Literatur. Nach einigen Monaten kaufte ich mir schließlich im Souvenirladen des Museums ein Buch von Rudolf Höß: Höß war Lagerkommandant von Auschwitz-Birkenau. Zu Kriegsende flüchtete er vor den einmarschierenden Sowjets, verdingte sich unter falschem Namen als Bauernknecht, wurde jedoch nach einiger Zeit von amerikanischen Truppen entdeckt. In Polen wurde ihm der Prozess gemacht. Während seiner Haft schrieb er – laut Eigenaussage, um dem Gerichtspsychologen die Arbeit zu erleichtern – ein mehrere Hundert Seiten langes Bekenntnis.

Dieses zu lesen war schockierend; nicht nur, weil ich mich in gerade hundert Metern Entfernung zu jener Villa befand, in der er jeden Morgen aufwachte und in der er gemeinsam mit Frau und Kindern beim Frühstück saß, seinen Hund streichelte und sich anschließend an die Arbeit begab, was für ihn bedeutete, Millionen Menschen das Leben zu rauben. Sondern auch, weil ich zum ersten Mal erkannte, was Hannah Arendt unter der Banalität des Bösen verstanden haben musste.

Bis dahin sah ich in den Nazis grausame Ungeheuer. Hier jedoch begegnete mir ein brutaler, verachtenswerter Mensch, aber eben ein Mensch. Höß wurde schließlich zum Tode verurteilt. Der Galgen, an dem er erhängt wurde, ist heute eine der vielen Sehenswürdigkeiten auf dem Gelände von Auschwitz I. Seine letzten Blicke richteten sich auf sein Lebenswerk. Er sah noch einmal die Baracken, einmal noch die elektrischen Zäune, ein letztes Mal die Gaskammern.

Schwierige Gedanken

Es ist schwierig, einen Nazi zu vermenschlichen, ohne im selben Satz den Holocaust zu relativieren. Der Humanismus dürfte – zumindest theoretisch – vor niemandem haltmachen. Höß, Hitler und Himmler waren keine Bestien, sondern Menschen. Das ist ein weitaus schwieriger auszuhaltender Gedanke als die weitverbreitete Dämonisierung. Erst wer das verstanden hat, wird das wahre Ausmaß und das Drama des Holocaust tatsächlich begreifen.

Micha Peseg: "Ich fürchte mich davor. Dass ich in der Lage sein werde, zu begreifen, was hier eigentlich passiert ist."
Foto: Privat

Auch in anderer Hinsicht war mein Jahr in Auschwitz für mein Denken prägend. Zum ersten Mal setzte ich mich mit einer fremden Kultur auseinander. Langsam begann ich eine gewisse Liebe zum Polnischen zu entwickeln. Ich aß die nur vierzig Cent kostenden Krautweckerln aus der kleinen Bäckerei, der zuliebe ich auf dem Heimweg stets einen Umweg in Kauf nahm. In der Kantine des Museums besorgte ich mir Pomidorowa, Tomatensuppe, oder die weit über die Grenzen hinaus bekannte Rote-Rüben-Suppe, Barszcz. Zu Hause aß ich am liebsten Pierogi, die man tiefgekühlt im Zehnerpack kaufen konnte.

Nach Startschwierigkeiten freundete ich mich mit den anderen Gedenkdienern im Ort an. Einige von ihnen zählen bis heute zu meinen Freunden. Wir besuchten gemeinsam andere Städte, tranken literweise Bier oder spielten Schach. Wir verzettelten uns in Diskussionen über die polnische Grammatik oder Hitler, veranstalteten Wettrennen oder gingen, mit einem billigen Fußball ausgestattet, zu einem der verwilderten Rasenplätze in Oswiecim. Meist trafen wir uns im Café Bergson. Es gab dort Hipstergetränke, außerdem Teetassen, auf die humanistische Sprüche gedruckt waren.

Nach einem Jahr habe ich Auschwitz wieder verlassen und es seither nie wieder besucht. Ich fürchte mich davor. Dass ich in der Lage sein werde, zu begreifen, was hier eigentlich passiert ist. Dass hier 1,2 Millionen Menschen vergast, erschossen, zu Tode geprügelt wurden. Dass dies ohne Not – vollkommen grundlos – geschah. Dass all dies nach dem Krieg einem Großteil der Bevölkerung, der davon erfuhr, nur ein unbeteiligtes Achselzucken entlockte. Auschwitz hat mein Leben geprägt.

Es hat mich den Glauben an die Menschen gekostet. Und es hat diesen Glauben im selben Maße wiedererweckt. Es hat mich von der Notwendigkeit überzeugt, das Gedächtnis an Auschwitz hochzuhalten, es zu erneuern, es einer kritischen Prüfung zu unterziehen und alles dafür zu tun, dass diese größte Katastrophe der Menschheitsgeschichte nicht mehr passiert. (Micha Pesseg, ALBUM, 25.1.2020)