Im Gastkommentar kritisiert die frühere AHS-Direktorin Heidi Schrodt den Hang zur Verallgemeinerung in Susanne Wiesingers Buch, das Kapitel zum Ministerium habe aber durchaus Brisanz. Lesen Sie dazu auch den Gastkommentar von Barbara Herzog-Punzenberger.

Machtkampf im Ministerium" lautet der reißerische Titel des neuen Buchs von Susanne Wiesinger, das bereits vor seinem Erscheinen gehörig Staub aufgewirbelt hat. Zwar hält der Titel nicht, was er verspricht, denn nur ein verhältnismäßig kleiner Teil widmet sich dem Inneren des Bildungsministeriums. "Wie Parteipolitik unsere Schulen zerstört", so der Untertitel, wird hingegen im ganzen Buch thematisiert.

Susanne Wiesinger hat mit ihrem Buch eine Debatte losgetreten.
Foto: APA / Robert Jäger

Die Kapitel, die sich dem Ministerium widmen, sind durchaus von Brisanz. Was Insider wussten, wird hier öffentlich gemacht, nämlich die unverhältnismäßig große Macht eines Ministerkabinetts und des unter Türkis-Blau in allen Ministerien etablierten Generalsekretärs samt der damit verbundenen Message-Control. Die Problematik der unter Türkis-Blau flächendeckend eingeführten Generalsekretäre und ihre negativen Auswirkungen auf die Arbeit innerhalb der Ministerien wurde hier vor kurzem anschaulich von Manfred Matzka dargelegt. Kabinettschef und Generalsekretär geben vor, wo es langgeht. Der Minister selbst hätte sich immer hinter sie gestellt, doch in der Übergangsregierung wäre der Druck des Kabinetts auf sie dann so richtig unerträglich geworden. Wer hat denn eigentlich das Sagen, könnte man sich da fragen. Wir erhalten ein Sittenbild eines Ministeriums, das vermutlich in anderen ähnlich aussieht.

Parteibuch vor Qualifikation

Das Thema der parteipolitischen Einflussnahme durchzieht wie ein roter Faden das ganze Buch, auf die Bildungsdirektionen der Länder trifft es auch zu. Wir wissen es: Noch immer ist in vielen Bereichen das Parteibuch wichtiger als die Qualifikation, noch immer ist ein sachlicher Diskurs zu Bildungsthemen über die Parteigrenzen hinweg kaum oder in letzter Zeit gar nicht mehr möglich, noch immer werden wissenschaftliche Erkenntnisse ideologischen Interessen untergeordnet. Die umstrittenen Deutschklassen, die sie anführt, sind ein Paradebeispiel für wissenschaftsresistente Bildungspolitik, in der selbst ein Wissenschafter als Minister die Wissenschaft ideologischen Vorgaben unterordnet.

Auch andere Schwächen unseres Schulsystems greift Wiesinger auf: die alles überbordende Bürokratie, die zentralistische Ausrichtung, die autonome Gestaltungsräume so gut wie nicht zulässt, das große Problem mangelnder Deutschkenntnisse oder das teils erschreckende Niveau an vielen Schulen, vor allem in Ballungsräumen. Viele Lehrerinnen und Lehrer werden mit immer größeren Herausforderungen, die eine zunehmend heterogene Schülerschaft ebenso wie deren Eltern mit sich bringen, im Stich gelassen. Und natürlich zieht sich auch durch dieses Buch der Fokus auf die muslimischen Schülerinnen und Schüler, deren Eltern, den Islam. Alles in allem: Wiesinger legt den Finger auf offene Wunden im Schulsystem, und das ist gut so.

Schöngeredete Missstände

Allerdings gibt es ein gravierendes Problem in diesem Buch: einen ausgeprägten Hang zur Verallgemeinerung. Wir wissen nicht, ob etwa das Mädchen, das aus Angst vor Verletzung des Jungfernhäutchens nicht Ski fahren durfte, ein Einzelfall war oder ob solche Fälle jetzt häufig vorkommen. Sind "Heiratsmärkte" an Brennpunktschulen wirklich die Regel? Zahlreiche Beispiele, keine Belege. Das macht die Schwäche des Buchs aus, ebenso wie ein ausgeprägter Alarmismus nach dem Motto: Alles ist schlecht, alles geht den Bach runter. Nebenbei gesagt: Viel differenzierter liest sich ihr Bericht, den das Ministerium auf seine Website gestellt hat.

Trotz aller – auch berechtigten – Einwände gegen das Buch darf man nicht zur Tagesordnung übergehen. Denn Faktum ist: Fast alles, was Wiesinger aufzeigt und anklagt, ist seit vielen Jahren bekannt. Die Politik hat lange Zeit hindurch ignoriert, dass Österreich ein Migrationsland ist und unsere Schulen, vor allem in den Ballungsräumen, davon geprägt sind. Als Missstände offenkundig wurden, wurde vielfach schöngeredet. Maßnahmen kamen zeitversetzt oder stehen noch immer aus, ein Gesamtkonzept fehlt bis heute, ebenso wie die erforderlichen Ressourcen.

Ein Politversagen

Zwei Generationen von Schülerinnen und Schülern aus Zuwandererfamilien sind bereits Verliererinnen und Verlierer dieses Politversagens, eine dritte droht dasselbe Schicksal zu erleiden. Wir wissen genau, wo überall anzusetzen wäre, die Maßnahmen der letzten zwei Jahre (Deutschklassen, Sitzenbleiben, verpflichtende Ziffernnoten) gehören jedenfalls nicht dazu. Sie bleiben, und das neue Regierungsprogramm verheißt auch nichts Gutes: Kindern mit Defiziten – und die haben Kinder aus sozial schwachen Familien mit mangelnden Deutschkenntnissen nun mal – werden künftig schon in der dritten Klasse Volksschule für die weitere Bildungslaufbahn vorselektiert: Ein Kompetenztest in der dritten Klasse, zusammen mit dem Jahreszeugnis der dritten Klasse und, wie bisher, mit dem Halbjahreszeugnis der vierten Klasse entscheiden künftig über die AHS-Reife. Wer noch nicht ausreichend Deutsch kann, hat Pech gehabt. Wer Eltern hat, die sich nicht darum kümmern können, ebenfalls.

"Kein Kind darf verlorengehen" heißt es als oberste Zielsetzung in Finnland. In Österreich ist die Zielsetzung nicht einmal in Ansätzen erkennbar. (Heidi Schrodt, 24.1.2020)