Langsam und bedächtig rollt Sandor Szabó über den kleinen Innenhof. Zwischen himmelblauer Wollhaube und dunkelvioletter Jacke blitzen wachsame grünblaue Augen hervor. Sie beobachten aufmerksam die Umgebung und visieren dann das Ziel dieser kurzen Reise an: einen silbernen Standaschenbecher. Dort angekommen, gibt sich der 80-Jährige in Ruhe seiner Nikotinsucht hin. Auch wenn die ihn in den Rollstuhl verfrachtet hat.

80 Zigaretten täglich hat er einst geraucht, erzählt Szabó, das kostete ihn 2014 sein rechtes Bein. Die Arbeit als Mechaniker, die er bis zur Amputation 60 Jahre ausgeübt hatte, musste er aufgeben. Die drei Geschwister schon tot, die Frau ebenfalls, Kinder gibt es keine. Und auch sonst gab es niemanden, der sich um ihn hätte kümmern können. Es war eine Ärztin im Spital, die sich seiner annahm. Ihr Name fällt ihm nicht ein, vergeblich kramt er in seinem Gedächtnis danach. Das ärgert Szabó sichtlich, denn ohne sie wäre er jetzt nicht hier.

Sandor Szabó ist glücklich mit der Pflegerin Vasilina Ciobanu. Die ist glücklich, dass sie in der Heimat arbeitet.
Hoang

Sandor Szabó hat Glück gehabt. Er gehört zu jenen wenigen pflegebedürftigen Menschen in Rumänien, die einen Pflegeplatz bekommen haben. In seinem Heimatort Timisoara, der drittgrößten Stadt des Landes mit rund 310.000 Einwohnern, gibt es gerade einmal ein Altenheim. Da hineinzukommen ist, nun ja, schwierig. Besagte Ärztin probierte es woanders, 40 Autominuten östlich von Timisoara.

Bacova. Die 1500-Seelen-Gemeinde ist ein typisch rumänisches Dorf auf dem Land. Einstöckige, großteils gepflegte Häuser zieren die Hauptstraße auf beiden Seiten, nur die ockerfarbene Kirche sorgt für Abwechslung. Wobei, ockerfarben ist vorerst nur der vordere Teil mitsamt Kirchturm. Der Rest des Gotteshauses muss offenbar noch auf einen neuen Anstrich warten, doch das fällt in dieser Tristesse nicht weiter auf. Der dauergraue Himmel ergänzt perfekt den Nebel und die matschigbraunen Wiesen, die vorbeibrausenden Lastwagen liefern die passende Akustik.

Kleine Pflegeoase auf dem Land

In Bacova hat die rumänische Caritas mithilfe der Kollegen in Österreich 2008 ein Altenheim und 2017 ein zweites errichtet. Der neuere Bau ist Sandor Szabós Zuhause. Schlicht, sauber, drei Betten in einem Zimmer. Wenn man so will, ist es eine kleine Oase für pflegebedürftige Menschen. Pflegekräfte gibt es nur wenige im Land. Einerseits fehlt den zuständigen lokalen Behörden dafür das Geld. Außerdem wandern viele Pfleger nach Zentraleuropa aus, um dort das Mehrfache zu kassieren.

Bacova – mit einer Kirche, deren Fassade noch nicht vollständig saniert wurde.
Hoang

In Österreich, sagt die Wirtschaftskammer, gibt es etwa 65.000 gemeldete Pflegerinnen und Pfleger. Mehr als 40 Prozent von ihnen, also mindestens 26.000, stammen aus Rumänien. Und während der Bedarf weiter steigt – bis 2050 um 127 Prozent oder 79.000 Personen – und Türkis-Grün deshalb eine Pflegereform plant, verursacht das in Rumänien erhebliche Mängel.

Andras Marton nennt es das "Megaproblem". Der Caritas-Direktor im etwas östlicher gelegenen Alba Iulia erklärt, dass in den vergangenen zwei Jahren 621.000 Menschen ausgewandert sind und damit fünf der etwa 20 Millionen Rumänen zumindest zum Teil im Ausland leben. Es sind Ärzte und noch viel mehr Pflegekräfte. Schätzungen zufolge wandern die nächsten 20 Jahre weitere 30 Prozent der Bevölkerung aus.

Auch Vasilina Ciobanu hat eine Vergangenheit in Zentraleuropa. Zwölf Jahre lang war sie in Italien als Pflegekraft tätig. Sechs oder auch neun Monate arbeitete sie im Ausland, dann gab es einen Monat Heimaturlaub. Die 62-Jährige wärmt ihr Haupt mit einer schwarzen Haube und ihren Oberkörper mit einer roten Kapuzenjacke. Die Jännerkälte ist auch in Bacova erbarmungslos.

Harte Zeit im Ausland

Die Zeit in Italien, sagt sie, war hart. "Mit Leuten zu reden war schwierig, ich wurde immer als Ausländerin gesehen." Und die Arbeit? "Ich musste immer für fünf arbeiten." Schmerzen habe sie gehabt, andauernd, sie habe ständig weinen müssen, sagt sie und zeigt dabei mit dem Finger auf ihr rechtes Auge. Und das Heimweh natürlich, das habe ihr zugesetzt. "Die Familie steht immer auf dem ersten Platz", versichert sie mehrere Male. Aber damals? Ciobanu war vor der Revolution 18 Jahre in Timisoara als Telefonistin tätig, danach in einer Schuhfabrik. Im Jahr 2005, mit 47 Jahren, wurde sie arbeitslos. "Das ist ein Alter, in dem man hier keine Arbeit mehr findet", sagt sie. Dann las sie von der Möglichkeit, Pflegerin im Ausland zu werden. Der Bereich hatte sie schon immer interessiert: "Ich mochte die Fernsehserien, in denen Menschen gepflegt wurden."

Noch einmal würde sie aber nicht mehr ins Ausland gehen. Sie ist zufrieden im Altenheim in Bacova, in dem sie sich seit eineinhalb Jahren um 26 Pflegebedürftige und damit auch um Sandor Szabó kümmert. Das Haus ist abbezahlt, nun kommen ihr Mann, ihre drei erwachsenen Kinder und sie mit ihren rumänischen Löhnen gut durch.

"Immer glücklich" mit der Arbeit in Österreich

Cristina Simion-Tanasie hingegen hat mit dem Ausland noch lange nicht abgeschlossen. Die 37-Jährige aus Bacova pendelt seit 2011 zur Arbeit nach Österreich. In Innsbruck, Salzburg, Wien, im steirischen Irdning und zuletzt in Linz. Sie selbst, sagt sie, sei "immer glücklich" mit der Arbeit. In Österreich verdient sie das Dreifache. Sie wolle dort arbeiten, solange es geht.

Alin vermisst seine Mutter, wenn sie in Österreich ist – und freut sich auf Schokolade.
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Was Alin davon hält? Der Neunjährige, adrett gekleidet mit Jeans und Hemd, sitzt brav auf einem Sessel in der Caritas-Kindertagesstätte in Bacova, nicht weit entfernt von den Altenheimen. An den Wänden kleben Zeichnungen und Fotocollagen der Kinder, Schneemänner und Weihnachtsbäume zieren die Fenster. Alin verbringt hier unter der Woche seine Nachmittage. Er ist das dritte Kind von Cristina Simion-Tanasie. Schüchtern und mit leiser Stimme spricht er. Darüber, dass er seine "Mama" vermisst, wenn sie im Ausland ist, auch wenn er dann täglich mit ihr telefoniert. Dass er versteht, dass sie weggeht, um Geld zu verdienen.

Alin hat drei Geschwister: eine 16-jährige Schwester, einen 13-jährigen Bruder und einen eineinhalb Jahre alten Halbbruder, den seine Mutter mit einem neuen Partner hat. Sie befindet sich deshalb gerade auch in Babypause, die mit dem zweiten Geburtstag des Jüngsten im August endet. Dann geht es wieder nach Österreich. Wohin genau, weiß sie noch nicht. Für Alin beginnt dann wieder die Zeit des Vermissens. Es bedeutet auch, dass tagsüber die Tante aufpasst und nachts die älteren Geschwister sowie der Vater seines Halbbruders.

Verwandte oft überfordert

Laut rumänischer Regierung sind mindestens 159.000 Kinder davon betroffen, dass mindestens ein Elternteil im Ausland lebt. Sie werden Euro-Waisen genannt. Cristina Mraz, Leiterin des Sozialamts der knapp drei Autostunden entfernten Stadt Petrosani, sagt, dass die Behörden immer wieder eingreifen müssten, wenn Kinder bei den Großeltern oder älteren Geschwistern zurückgelassen werden. Diese seien oft überfordert. Zumindest, sagt sie, seien die Kinder oft nicht jünger als fünf Jahre alt. Nicht so bei Alins Familie. Der trägt es mit Fassung, dass die Mama bald wieder weg ist. Immer, wenn sie zurückkehrt, nimmt sie eine ganze Tasche Schokolade mit. Kurz muss er lachen bei dem Gedanken.

Die Kindertagesstätte von Bacova.
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Einige Häuser weiter versteht Sandor Szabó nicht, warum die Menschen ins Ausland gehen. Er selbst hätte früher die Chance gehabt, aber er wollte nicht weg: "Das Weiß- und das Schwarzbrot schmeckt daheim am besten!" Pflegerin Vasilina Ciobanu lächelt ihn bei diesem Satz an. Die Menschen hier, sagt er, seien seine neue Familie. Ein paar Tränen rollen ihm über die Wange, schnell wischt er sie weg. Ciobanu nimmt ihn in den Arm, tröstet ihn. Sandor Szabó scheint es hier wirklich gut zu gehen. Und eine Packung Zigaretten, sagt er, hält mittlerweile zwei bis zweieinhalb Tage. (Kim Son Hoang aus Bacova, 25.1.2020)