14 Stunden dauert die Fahrt mit dem Nachtzug von Wien nach Brüssel. Mit dem Flieger geht das wesentlich flotter. Warum also tut man sich so eine Reise an?

Foto: Simon Tartarotti

So leise wie die Nachtzüge nach und nach verschwunden sind, so geräuschvoll kommen sie nun zurück. Eine Blasmusikkapelle spielt Beethovens Ode an die Freude, während der erste ÖBB-Nightjet am Sonntag den Wiener Hauptbahnhof Richtung Brüssel verlässt. Die Bundesbahnen spendieren au dem Bahnsteig belgische Waffeln und Pommes, die am Bahnsteig installierten Scheinwerfer rücken die aufsteigenden Fettdämpfe ins blaue, Nightjet-gebrandete Licht.

Von der Umweltministerin abwärts sind Politiker gekommen, die auf ihren ökologischen Fußabdruck bedacht sind und nun per Mikro betonen, was für ein Meilenstein diese Fahrt sei. Klimaaktivisten posieren in Pyjamas vor den Wagons, EU-Abgeordnete winken bei der Abfahrt aus den Fenstern, in einem flattert eine EU-Flagge. Medien halten ihre Leser atemlos per Push-Benachrichtigung über die pünktliche Abfahrt und Ankunft am Laufenden, auf Twitter ist der Hashtag Trend. Fast könnte man meinen, dass nicht einfach der Nachtzug, sondern die erste österreichische Marsmission startet. Stellt sich die Frage: Was geht hier eigentlich ab?

Der erste Nachtzug nach Brüssel fuhr öffentlichkeitswirksam am Sonntag ab.
Foto: Philip Pramer

Da wäre die einfache Erklärung: Greta Thunberg, Fridays for Future, das gestärkte Klimabewusstsein. "Zugstolz" als Antwort auf "Flugscham". Weil, und das ist wohl inzwischen wirklich zum Allerletzten durchgedrungen, eine Reise mit der Bahn etwa zehnmal weniger CO2 verursacht als eine mit dem Flugzeug.

Aber steckt hinter der Nachtzug-Begeisterung nicht vielleicht doch mehr? Etwa der Trend zur Entschleunigung? Ein Protest der Individualisten gegen die Massenabfertigung am Flughafen? Oder nostalgisches Schwelgen in Erinnerungen an die guten alten Interrail-Zeiten, als man noch jung war?

20:30 Wien Hauptbahnhof

Ich fühle mich jedenfalls eher älter als jünger, als ich mein Einzel-Schlafabteil im zweiten Zug nach Brüssel betrete. Bisher gehörte ich zu der Fraktion, die sich lieber zum Sparschienen-Preis im Sitzwagen die Wirbelsäule krummgeschlafen hat. Eine einfache, horizontale Schlafgelegenheit hätte es auch getan.

Doch hier gibt es ein richtiges Bett, einen Arbeitstisch, alles eingerahmt in Birkenfurnier-Tapete. Nur das Waschbecken ist aus Kunststoff, der sich nicht besonders viel Mühe gibt, wie Granit auszusehen. Alles wirkt etwas abgewohnt und aus dem vorigen Jahrtausend (Lochkarten-Keycard!), aber auch charmant irgendwie.

Einige der Wagons, die die ÖBB nach Brüssel quer durch Europa zieht, sind über 40 Jahre alt und haben Millionen Kilometer auf dem Buckel. Die Deutsche Bahn, der sie zuvor gehörten, beschloss 2016, die Wagons und das verlustreiche Nachtzuggeschäft in Pension zu schicken. Die ÖBB schlug zu, übernahm Strecken und "Rollmaterial", wie es im Eisenbahnersprech heißt. Zusätzlich bestellte sie neue Schlafwägen, die sogar WLAN können und wo sich Alleinreisende in versperrbaren Verschlägen wegkapseln können. Ab 2022 sollten diese eigentlich die in die Jahre gekommenen Wagons ersetzen. Dem unerwarteten Nachtzug-Boom ist es zu verdanken, dass die neuen Züge nicht statt, sondern zusätzlich zu den alten fahren werden.

21:45 Kurz vor Linz

Im Abteil neben mir hat es sich Jessica mit der Mini-Flasche Sekt, die jedem Schlafwagen-Reisenden zusteht, gemütlich gemacht. ("Gute Idee, das macht richtig schläfrig!"). Die 34-Jährige arbeitet bei einer UN-Organisation in Wien und fährt dienstlich nach Bonn. Die meisten ihrer Kollegen fliegen, aber wann immer es irgendwie geht, versucht sie, den Zug zu nehmen.

Ihr Arbeitgeber zahlt diesen allerdings nur, wenn er gleich viel oder weniger kostet als der Flug. "Gerade bei der Uno sollte es eigentlich anders sein", sagt sie. Wer täglich mit Umweltkatastrophen zu tun hat, sollte mit gutem Beispiel vorangehen. Genau das versucht sie nun im Alleingang. Ihren Kindern möchte sie einmal erzählen können, dass sie wenigstens einen kleinen Teil dazu beigetragen hat, die Klimakrise zu verhindern. "Natürlich ist das Gutmenschentum. Aber was soll ich sonst tun?"

Kabinenparty: Nachts kann es im Abteil bunt werden.
Foto: Philip Pramer

23:55 Kurz nach Passau

Letztlich gibt es drei Typen von Nachtzugreisenden, wird mir langsam klar. Da wären die Weltverbesserer, die mit ihren kleinen Taten Zeichen setzen wollen – so wie Jessica oder die Anthropologiestudentin Emma aus Brüssel, die vor einem Jahr beschlossen hat, gar nicht mehr zu fliegen.

Dann gibt es die Pragmatiker. Für sie ist der Zug einfach die günstigste, praktischste oder einzige Möglichkeit zu reisen. Wie Chloe, ebenfalls aus Brüssel, die vor zwei Jahren plötzlich Flugangst bekommen hat. Oder die Musicaldarstellerin Sara, die gerade Castings im deutschsprachigen Raum abklappert. Oder Marc, der Orchideen-Spotter, der schon mal nach Albanien fährt, um eine besondere Knospe zu knipsen. Und es gibt die, für die Zugfahren eine Lebenseinstellung ist. Im Zug nach Brüssel sind es vor allem Männer Mitte 40, die ihre Abteiltüren bis spät in die Nacht offenlassen, weil sie auf Besuch und einen Plausch über das Leben hoffen. Als Gesprächspartner finden sich dafür meist Männer im selben Alter.

Da ist zum Beispiel Tom, niederländischer Kunstprofessor, der regelmäßig aus seiner Heimat nach Linz pendelt. Er trägt ein pfiffiges Hemd unter seinem Filzanzug, ein krasser Kontrast zum ungarischen Theologen Andreas in Jogginghose, seine heutige Nachtzugbekanntschaft. Als ich Tom frage, warum er nicht fliegt oder das Auto nimmt, runzelt er irritiert die Stirn. Darüber habe er eigentlich noch nie nachgedacht. Die entspannte Plauderei sei für ihn Teil des Reiseerlebnisses. In all den Jahren sei es erst zweimal vorgekommen, dass er allein im Abteil war und niemanden zum Reden hatte. Einmal, erzählt Tom, stellte ihm ein Reisegenosse sogar den Kontakt zum ehemaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan her, nachdem er beim Einschlafen dessen Namen gemurmelt hatte. Zu einem Treffen mit Annan kam es dann aber nie.

5:30 Irgendwo in Deutschland

Ich liege in meiner Luxuskoje, die halbleere Flasche Welcome-Sekt neben mir, und grüble, warum ich mir das eigentlich antue. Ist es das Gefühl des Unterwegsseins statt des Ankommenwollens wie im Flieger? Oder jenes, Herr über die Entfernungen zu sein? Zu sehen, dass zwischen Wien und Brüssel hunderte kleine -heims, -dorfs und -felds liegen? Die Stimmung, die mich so an Jugendherbergen erinnert?

8:36 Aachen

Vor der Fensterscheibe klickt ein Zippo, draußen ist ruhig genug, um die Zigarette knistern zu hören. Ich schlurfe auf den Bahnsteig, wo sich eine Gruppe Mitreisender rauchend die Beine vertritt. In Aachen, der letzten Station vor der belgischen Grenze, steht der Zug für eine halbe Stunde still, weil Lok samt Führer gewechselt werden.

Notwendig ist das, weil der Kontinent bahntechnisch immer noch ein Fleckerlteppich ist. Europas Schienen wurden vor allem in Kriegszeiten gelegt, erklärt man mir bei der ÖBB. Jeder Staat versuchte, ein möglichst geschlossenes System zu schaffen, um Besetzern das Leben schwerzumachen. In Zeiten eines geeinten Europas ist das Regulationswirrwarr eines der größten Hemmnisse für den internationalen Bahnverkehr. Lokführer müssen nicht nur die lokalen Regeln, sondern auch die Landessprache in Wort und Schrift sicher beherrschen. Die Herumschieberei kostet vor allem nachts viel Geld. Kosten, die sich auf die Ticketpreise niederschlagen und die Bahn oft teuer und unattraktiv macht.

Das Frühstück kommt im Schlafabteil ans Bett.
Foto: Philip Pramer

9:00 Kurz nach der belgischen Grenze

Alexander Gomme ist davon überzeugt, dass das nicht so sein muss. Ich treffe den Belgier zwei Abteile weiter zum Frühstück. Er ist bei Back on Track aktiv, einer kleinen Organisation, die sich der Rettung der Nachtzüge verschrieben hat. "Die Politik hat es in der Hand", sagt er. Der Green Deal der EU-Kommission sei eine Chance, den Bahnverkehr zu fördern und etwa steuerlich zu begünstigen.

Alexander selbst ist schon 220-mal mit dem Nachzug gefahren. "Eigentlich bin ich nicht der Typ, der sich so etwas aufschreibt", sagt er, aber über seine Zugreisen hat er Buch geführt, warum auch immer. Auch in Brüssel gab es viel Medienrummel um den Zug. Auf der Hinreise ist Alex achtmal interviewt worden, immer wieder musste er seinen Landsleuten das Konzept eines Nachtzugs erklären. Der neue ist der erste seit Jahrzehnten, der in Belgien haltmacht.

10:55 Brüssel

Nach 14 Stunden und 17 Minuten kommt der Nightjet in Brüssel an. Er braucht viel zu lange, beschwerten sich bereits viele, der 2003 eingestellte Zug fuhr dieselbe Strecke in weniger Zeit. Was als großer Wurf hingestellt wird, sei in Wirklichkeit ein Rückschritt. Die Ankunftszeit von 10:55 sei zudem zu spät für viele Geschäftsreisende.

Grund dafür ist laut ÖBB, dass man die Idee für den Brüssel-Nightjet erst kurzfristig hatte und deshalb nur schlechte Slots von den Belgiern bekommen hat. Ab Ende des Jahres soll der Zug schneller fahren und eine Stunde früher in der europäischen Hauptstadt sein.

Nach mehr als 14 Stunden fährt der Nachtzug in Brüssel ein. Manchen dauert das zu lange.
Foto: Philip Pramer

Schwieriger zu lösen ist die Tatsache, dass die europäischen Bahnnetze teilweise überlastet sind. Denn auch wenn die Nachtzüge sich nach und nach verabschiedet haben, gibt es immer mehr Güterzüge, die nachts gemächlich bei 100 Kilometern pro Stunde dahinrollen. Das verlangsamt auch die Nachtzüge.

In der Ankunftshalle spielt am öffentlichen Klavier schon wieder jemand Ode an die Freude. Müdigkeit macht sich in mir breit, und mir wird wieder klar, was der eigentliche Sinn und größte Vorteil von Nachtzügen ist: dass man in ihnen ganz gut schlafen könnte. (Philip Pramer, 25.1.2020)