Nachdem ich jahrelang entschlossen gewesen war, es nicht zu tun, wandte ich mich am 25. November 2018 an die Unabhängige Opferschutzanwaltschaft, eine Initiative gegen Missbrauch und Gewalt. Sie war nach dem Bekanntwerden einer Fülle von Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche Österreichs vom Wiener Kardinal Schönborn gegründet worden. Es gibt sie schon seit 2010. Ich hatte acht Jahre lang gezögert, vor dieser Institution über die Vorkommnisse in meiner Kindheit auszusagen. Aber nun war ich dazu bereit.

Als Zehnjähriger wurde Josef Haslinger Schüler des Sängerknabenkonvikts Stift Zwettl.
Foto: Heribert Corn

Wer sich auf der Website der Unabhängigen Opferschutzanwaltschaft umsieht, kann leicht in Verwirrung geraten, weil dort noch von einer zweiten Institution, nämlich von der Unabhängigen Opferschutzkommission die Rede ist. Allerdings scheinen beide Institutionen dem gleichen Ziel zu dienen. Die Unabhängige Opferschutzanwaltschaft und die Unabhängige Opferschutzkommission, so steht da zu lesen, ergreifen und beschließen Maßnahmen und Initiativen – insbesondere auch finanzielle und therapeutische – im Interesse von Betroffenen, die im Kindes- oder Jugendalter Opfer von Missbrauch oder Gewalt durch VertreterInnen und Einrichtungen der katholischen Kirche in Österreich geworden sind. (www.opfer-schutz.at)

In welchem Verhältnis diese beiden Institutionen zueinander stehen, wird auf der Website folgendermaßen erklärt: Die Unabhängige Opferschutzanwaltschaft wird von Waltraud Klasnic geleitet, die sich bei ihren Aktivitäten auf die Entscheidungen und Empfehlungen der Unabhängigen Opferschutzkommission stützt, deren Vorsitzende sie ist.

Waltraud Klasnic, die ehemalige Landeshauptfrau der Steiermark, steht also einer Kommission vor, die für eine andere Institution, die sie ebenfalls leitet, Entscheidungen trifft und Empfehlungen abgibt. So verwirrend mir das einerseits vorkam, so klar war andererseits, wer hier die eigentliche Zuständigkeit für meinen Fall haben musste, nämlich die von den Medien meist als Klasnic-Kommission bezeichnete Unabhängige Opferschutzkommission, die ja nicht nur aus ihrer Vorsitzenden besteht, sondern, wie es auf der Website weiter heißt, aus angesehenen und fachlich kompetenten Persönlichkeiten vor allem aus den Bereichen Recht, Psychologie, Medizin, Pädagogik und Sozialarbeit. Und dann werden diese Persönlichkeiten aufgezählt. Die Liste beginnt mit Dr. Brigitte Bierlein, der Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs.

Ihr Eintrag wurde sieben Monate später mit der zusätzlichen Bemerkung versehen, sie habe ihre Mitgliedschaft in der Kommission für die Zeit ihrer Tätigkeit als Bundeskanzlerin ruhend gestellt. Außer Brigitte Bierlein waren noch sechs weitere Persönlichkeiten als Mitglieder der Unabhängigen Opferschutzkommission aufgelistet: Univ.-Prof. Dr. Reinhard Haller, ein Psychiater und Neurologe, Hon.-Prof. Dr.Udo Jesionek, der Präsident der größten Opferhilfsorganisation "Weißer Ring", Mag. Ulla Konrad, die langjährige Präsidentin des Berufsverbandes Österreichischer Psychologinnen und Psychologen, Dr. Werner Leixnering, der einstige Leiter der Abteilung für Jugendpsychiatrie der Landes-Nervenklinik in Linz, Mag. Caroline List, die Präsidentin des Landesgerichts für Strafsachen Graz, sowie Dr. Kurt Scholz, der ehemalige Präsident des Wiener Stadtschulrats und danach der Restitutionsbeauftragte der Stadt Wien.

Eine Mail an Brigitte Bierlein

Als ich mich auf der Website der Unabhängigen Opferschutzkommission umsah, war ich womöglich etwas voreilig. Ich las, dass die Kommissionsmitglieder für Gespräche, rechtliche und psychologische Beratung, generelle Empfehlungen und Vorschläge sowie für die Dokumentation zuständig seien, und wähnte mich an der richtigen Stelle. Vor allem die Dokumentation war mir wichtig geworden. Ich wollte, dass mein Fall von einer offiziellen Institution dokumentiert wird. Aber an welche Persönlichkeit sollte ich mich wenden? Auf der Website waren die Mail-Adressen aller Kommissionsmitglieder angeführt. Ich nahm einfach die erste Adresse, die von Frau Dr. Brigitte Bierlein, der Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs. Ich wusste nichts über sie, aber ihr Amt vermittelte den Nimbus von Korrektheit und Überparteilichkeit.

Hätte ich in Ruhe weiter recherchiert, hätte ich erfahren können, dass ich letztlich weder vor der Unabhängigen Opferschutzanwaltschaft noch vor der Unabhängigen Opferschutzkommission aussagen sollte, sondern vor der von der Erzdiözese Wien eingerichteten Ombudsstelle für Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche. Aber das wusste ich nicht, denn ich hatte nicht die nötige Ruhe, alles durchzulesen, als ich nach Jahren der Weigerung, dies zu tun, am Abend des 25. November 2018 eine Mail an Brigitte Bierlein schrieb und dabei schon im ersten Satz zu erkennen gab, dass mir die Unterscheidung zwischen Opferschutzanwaltschaft und Opferschutzkommission noch nicht geläufig war. Ich schrieb: Ich wende mich an Sie als Mitglied der Unabhängigen Opferschutzanwaltschaft. Nach langem Zögern habe ich mich nun entschlossen, über den sexuellen Missbrauch, der mir in jungen Jahren als Sängerknabe im Zisterzienserkloster Stift Zwettl widerfahren ist, auszusagen. Ich bitte Sie freundlichst um eine Terminvereinbarung für ein vertrauliches Gespräch.

Schnelle Antwort

Sie antwortete mir schon zwanzig Minuten danach: Zunächst möchte ich mich für Ihr Vertrauen und Ihren Mut zu einer Aussage bedanken. Grundsätzlich werden die Erstgespräche nicht von den Kommissionsmitgliedern geführt. In Ihrem Fall würde ich aber eine Ausnahme machen, wenn Sie das wünschen. Bitte allerdings um Verständnis, dass ich wegen unserer Session im Verfassungsgerichtshof, die morgen beginnt und bis 14. Dezember dauert, leider erst einen Termin danach vereinbaren kann. Mit Ihrem Einverständnis würde ich Herrn Professor Herwig Hösele, der die Sekretariatsarbeit in der Kommission verrichtet, ersuchen, Sie über unsere (diskrete) Vorgangsweise bzw. den nun schon langjährigen Ablauf (die Kommission arbeitet seit 8 Jahren) zu informieren. Beste Grüße, Brigitte Bierlein

Ich war erfreut über die schnelle Antwort. Zwar wurde ich von Brigitte Bierlein darüber belehrt, dass die Erstgespräche nicht von den Kommissionsmitgliedern geführt würden, aber sie hatte mir gleichzeitig angeboten, für mich eine Ausnahme zu machen. Der von ihr genannte Prof. Herwig Hösele, der mich über die Vorgangsweise informieren sollte, hat nie Kontakt mit mir aufgenommen. Dafür bekam ich von Brigitte Bierlein eine gute halbe Stunde später erneut eine Mail: Nach Durchsicht unserer Sessionstermine könnte ich Ihnen doch noch diesen Freitag 29.11. zwischen 13.45h und 14.45h oder Samstag 30.11. zwischen 13h und 15h anbieten.

Bevor ich schlafen ging, antwortete ich: Ich bin überrascht, wie schnell Sie reagiert haben. Leider werde ich ausgerechnet am kommenden Wochenende nicht nach Wien kommen.

Am nächsten Morgen fand ich erneut eine Mail von Brigitte Bierlein vor: Ginge Freitag 7.12. zwischen 11.30h und 14h? … Wenn ich nicht gleich antworte, gehen Mails in der Vielzahl "unter", (auch) deshalb rasche Reaktion …

Sie gab mir ihre Handynummer

Sie gab mir auch noch ihre Handynummer, was ich nur als besonderen Vertrauensbeweis verstehen konnte. Den neuen Termin konnte ich ihr bestätigen. Jahrzehntelang hatte ich es abgelehnt, bei einer offiziellen Stelle zu dokumentieren, was mir als Kind im Zisterzienserkloster Stift Zwettl widerfahren ist. Ich hätte das Gefühl gehabt, mich zu wichtig zu nehmen und mit diesem Schritt auch noch anderen ihr Leben zu zerstören. Aber an diesem 25. November, einem Sonntag, der in den evangelischen Kirchengemeinden als "Totensonntag" begangen wird, hatte ich den ganzen Tag lang recherchiert, wer von den Tätern, die ich nunmehr zu benennen gedachte, noch lebte und wer schon gestorben war. Ich hatte herausgefunden, dass mittlerweile alle Erziehungsberechtigten, die in meiner Sängerknabenzeit sexuellen Kontakt zu mir gesucht hatten, tot waren. Das hatte es mir erleichtert, meinen in den Tagen davor gereiften Entschluss nun auch wirklich umzusetzen.

Ich schaute mich noch einmal auf der Website der Klasnic-Kommission um und sah meinen Irrtum, was die Zuständigkeit für die "Erstaussage" betrifft, bestätigt. Aber ich hatte Glück gehabt. Unversehens war ich in eine privilegierte Lage geraten. Ich war die Ausnahme. Ich würde mich nicht zur Ombudsstelle für Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche der Erzdiözese Wien begeben müssen, meine Aussage würde im Haus der respektabelsten demokratischen Rechtsinstitution von deren Präsidentin zur Kenntnis genommen werden.

Josef Haslinger, "Mein Fall", € 20 / 144 Seiten. S.-Fischer-Verlag, 2020
Foto: S.-Fischer-Verlag

In der Nacht vor meiner Aussage, als die Erinnerungen an meine Sängerknabenzeit mich lange wach hielten, kam ich auf die Idee, dass ich Fotos mitbringen sollte. Und so stand ich früh auf, um ein altes Plastiksackerl zu suchen, in dem, wie ich mich zu erinnern meinte, neben Ausgaben der St. Pöltner Kirchenzeitung mit Fotos unserer Konzertreisen, auch Briefe, Ansichtskarten und Bilder aus der Sängerknabenzeit verwahrt sein müssten.

Darunter müsste sich wohl auch das Foto von Pater Gottfried finden, das er einem Brief beigelegt hatte. Aber ich fand dieses Sackerl nicht. Als ich meiner Frau erzählte, wonach ich suchte, holte sie aus einem der obersten Fächer des Wäschekastens, das nur mit Hilfe einer Stehleiter erreichbar war, eine Schachtel hervor, in der sich Kindheitsfotos von mir befanden, darunter auch das gesuchte Foto von Pater Gottfried und eines von Pater Bruno. Aber vom Plastiksackerl nach wie vor keine Spur.

Kindheitsfotos

Während ich in der Schachtel herumkramte, stieß ich auf ein Bild, das mich im Alter von zwölf Jahren in weißem Hemd, Krawatte und der Festtagsuniform der Zwettler Sängerknaben zusammen mit meinen Eltern und dreien meiner Geschwister zeigt. Wir stehen auf den flachen Stufen eines Kirchenportals. Auf meinem Festtagssakko mit den vier im Quadrat angeordneten goldenen Knöpfen prangt auf der linken Brustseite das Wappen von Stift Zwettl. Meine Eltern mussten wohl ein Konzert besucht haben, in dessen Anschluss es mir gestattet war, eine Weile mit ihnen zu sein. Die zwei jüngsten Brüder sind nicht auf dem Foto. Der eine war damals noch ein Baby und vermutlich bei der Großmutter zu Hause gelassen worden, der andere war noch gar nicht auf der Welt.

Dieses Foto steckte ich ebenfalls in die Innentasche meines Mantels, weil es mich in dem Alter zeigt, über das ich auszusagen gedachte, und weil bei dem Gespräch mit Brigitte Bierlein möglicherweise ja auch meine Herkunft eine Rolle spielen könnte.

Und so fuhr ich am Freitag, dem 7. Dezember, morgens mit der Straßenbahn zur Freyung, wo sich das Gebäude des Verfassungsgerichtshofs befindet. Um diese Jahreszeit standen dort aber auch die Verkaufs- und Ausschankbuden eines beliebten Wiener Weihnachtsmarktes, bei denen, als ich ankam, gerade die letzten Vorhängeschlösser geöffnet und die Absperrbretter zur Seite geschafft wurden. Ich war zu früh dran und schlenderte ziellos und seltsam blind für die angebotenen Waren von einem Stand zum nächsten. Vor dem Palais Ferstel hatten die österreichischen Winzer ihre Verkaufsstände.

Dort hatten sich schon die ersten Weintrinker eingefunden. Nur einer der Stände war noch frei von Kunden. Ich kaufte mir ein Achtel Riesling und ging in den angrenzenden, aus groben Brettern zusammengezimmerten Verschlag, weil dort auf dem Stehtisch ein Aschenbecher stand. Während ich eine Zigarette rauchte und in kleinen Schlucken den Riesling trank, vergewisserte ich mich, dass die drei Fotos noch in der Innentasche meines Mantels steckten. Ich schaute sie mir noch einmal an, und da kam mir in den Sinn, ich sollte mich im Gespräch ganz auf die Darstellung der sexuellen Übergriffe und Gewalttaten konzentrieren und die Dokumentation nicht unnötig mit Ausschweifungen über meine Familie anreichern.

Und so steckte ich die Fotos der beiden Patres in meine Sakkotasche, ließ das Familienfoto aber im Mantel, den ich im Gebäude des Verfassungsgerichts gewiss ablegen würde. Fünf Minuten vor halb zwölf machte ich mich auf den Weg, mit einem Kaugummi im Mund, den ich beim Imbissstand unmittelbar vor dem Verfassungsgerichtshof in den Abfallkorb spuckte. Bevor ich eintrat, blickte ich kurz hoch. Das Gebäude sah aus, als wollte es einen Renaissance-Palazzo imitieren. Der wiederum die Antike imitierte. Jedenfalls betrat ich das Gebäude durch einen römischen Portikus.

Nach der Anmeldung beim Empfang wurde ich von einer jungen, adrett gekleideten Frau abgeholt. Während wir durch das prächtige, holzgetäfelte Treppenhaus einen Stock nach oben zu den Amtsräumen der Präsidentin gingen, nahm ich mir fest vor, sachlich, ruhig und konzentriert zu sprechen und mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen. (Josef Haslinger, ALBUM, 25.1.2020)