An der alten Burgfeste von Ksiaz Wielki bekommt es Pawel, nachdem er heroisch bereits den mystischen Wawel-Drachen besiegt hat, schließlich mit fast allen polnischen Herrschern und Königen zu tun. Wie in einem dieser Shooter-Spiele streift der durch das alte Gemäuer, gestärkt durch Elixiere, die er vom Hexer Geralt erhalten hat (Kenner des Computerspiels The Witcher wissen, wer gemeint ist).

Autor Ziemowit Szczereks hat eine Schwäche für die Auslotung des Ostens und seiner kulturellen Leitlinien.
Foto: Voland & Quist / Sebastian Frackiewicz

So tritt Pawel den alten Fürsten entgegen. Als Erster muss ausgerechnet Mieszko I. dran glauben. "Du zückst die Pistole, schießt und streckst mit einem einzigen Schuss in die Stirn den Täufer des polnischen Staates und Herzog der Polanen nieder." Es ist eine der Schlüsselepisoden in Ziemowit Szczereks Roman Sieben (Voland-&-Quist-Verlag), der einmal mehr zeigt, wie lebendig und einfallsreich Polens junge Literatur ist.

Szczerek, der eine ausgeprägte literarische Schwäche für die Auslotung des Ostens und seiner kulturellen Leitlinien und Verwerfungen hat, schickt seinen Antihelden Pawel auf einen aberwitzigen und rauschhaften Roadtrip, um es mit den polnischen Mythen, Wundern, Legenden und Dämonen aufzunehmen, sie kleinzumachen, zu zerstören, umzudeuten, einen neuen Weg aus dem Nebel vergangener Träume und Albträume zu erforschen. Schließlich sind sie es, die auch im gegenwärtigen Polen dafür sorgen, dass die Geister der Vergangenheit wieder ihr unheilvolles Unwesen treiben können.

Das Fest der Toten

Die irre Reise startet passenderweise am 1. November. "In ästhetischer Hinsicht ist das Fest der Toten", sagte Szczerek in einem Interview, "wirklich der schönste polnische Feiertag. Die ganze polnische Landschaft nimmt eine erstaunliche Atmosphäre an, es ist dämonisch. Dieses dunklere halbe Jahr passt genau zu einer solchen Horroratmosphäre." Der Tag ist das Tor zu einer düsteren Zwischenwelt, die der Autor mit einer Urkraft an funkensprühender Kreativität zum Leben erweckt.

Das Geschehen entfaltet sich entlang der Landstraße Nummer sieben, zwischen den beiden Städten Krakau und Warschau. Die Straße ist somit auch so etwas wie das Rückgrat des polnischen Staates. Sie schlängelt sich von Norden nach Süden, auch durch das Gebiet des einstigen Kongresspolens, das bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zum russischen Zarenreich gehörte.

Und es ist der Raum, in dem der legendäre Stamm der Lechiten siedelte, Westslawen, die unter anderem als Urstamm der späteren Polen gelten. Auch sie tauchen an späterer Stelle des Romans auf. An Mythen ist der Imaginationsraum, den Szczerek sich für seine Tour de Force à la Hunter S. Thompson ausgewählt hat, also kaum zu überbieten. Dazu spickt er seine rasant-knallige Geschichte mit unzähligen Zitaten, Personen, Versatzstücken und Bildern aus der polnischen Geschichte, Politik, Kunst, Literatur, aus dem Kino und aus der globalen Pop- und Punkkultur.

Dass der Leser / die Leserin diesen buchstäblich durchgeknallten Kosmos überhaupt erkunden kann, hat er/sie dem Übersetzer Thomas Weiler zu verdanken, der für den Roman nicht nur den passenden poetischen Krachmacherton eines literarischen Tarantino gefunden hat, sondern der in Kleinstarbeit all diese kulturellen Zitate aufspürt und einer deutschsprachigen Lektüre zugänglich macht. Hier lohnt auch ein Blick auf die Seite des Projekts Fussnoten.eu, wo Weiler den irrlichternden Kulturritt anhand von ausgesuchten Beispielen beleuchtet.

Ziemowit Szczerek, "Sieben". Aus dem Polnischen von Thomas Weiler. € 22 / 272 Seiten. Voland & Quist, 2019
Foto: Voland-&-Quist

In der Geschichte vermischt sich die Geisterwelt mit jener der Wirklichkeit, Fakten mit Fantasie, Hexerei und Hokuspokus. Auch wenn Szczerek sein Feuerwerk an manchen Stellen etwas dosierter und konzentrierter hätte abfeuern können, entwickelt die Lektüre einen überwältigenden Sog. Pawel, der anfangs noch mit seinem Vectra durch die Geschichte rollt, ist einer dieser zynischen Fake-News-Macher, der allerdings an wenig bis gar nichts glaubt außer an die knallige Headline, die für Clicks und "Rock ’n’ Roll" sorgt. Er ist für ein Webportal tätig, das übersetzt "heiliges Polen" heißt (Swiatpol.pl).

Ganoven, Geister, Gauner

Während des Trips arbeitet er sich nicht nur an Ganoven, Geistern und Gaunern ab, sondern umkreist monologisch historische, politische oder nationalistische Thesen sowie Klischees und Vorurteile der Eigen- und der Fremdverortung, wobei die identitätsstiftende Urfrage nach der Zugehörigkeit der Polen immer wiederkehrt. Westen oder Osten, das ist hier die Frage. Licht oder Dunkelheit? "Noch weiter hinten kommt dann Russland, die weniger vertraute Version des Ostens, und weniger vertraut heißt exotisch, und exotisch heißt reizvoll. Russland ist natürlich auch barbarisch, vielleicht sogar barbarischer als der sonderbare Mix aus Slawen und Hunnen auf der Strecke dazwischen, aber es ist geil für Glitzer und gut für Geschäfte."

So versucht Pawel im Angesicht der geografischen und kulturellen Nachbarn herauszudestillieren, was überhaupt als polnisch gelten kann. Es ist die Lieblingsobsession der Nationalen, die Szczerek literarisch ad absurdum führt. Ob es überhaupt Hoffnung gibt, der Welt der Gespenster – auch mit der Hilfe von Hexenelixieren – Herr zu werden, das muss der Leser schon selbst herausfinden. Aber es lohnt sich, dieser urkomischen Dämonenaustreibung zu folgen. Ob man dann noch seinen eigenen Augen und Ohren trauen kann, ist eine andere Frage. (Ingo Petz, ALBUM, 28.1.2020)