Im Gastkommentar kritisiert der Historiker Jens Ivo Engels die Erhebungsmethodik des Rankings.

Es ist wie bei Dinner for One: "Same procedure as last year? – Same procedure as every year." Die Antikorruptionsorganisation Transparency International hat vor wenigen Tagen ihren weltweiten Korruptionsindex für 2019 vorgelegt. Gewinner und Verlierer sind seit der Erfindung des Rankings im Jahr 1995 mehr oder weniger gleich. Auf den vorderen Plätzen finden sich Länder wie Dänemark und die anderen skandinavischen Staaten. Am Ende der Liste rangieren typischerweise gescheiterte Staaten und Bürgerkriegsländer wie derzeit Somalia, Sudan und Jemen. Österreich findet sich zuverlässig zwischen dem zehnten bis fünfzehnten Rang von knapp 200 gelisteten Staaten (2019: Platz zwölf.)

Die von "Spiegel" und "Süddeutscher Zeitung" aufgedeckten Korruptionsfantasien von Heinz-Christian Strache und Johann Gudenus auf Ibiza werden Österreich 2020 wohl einen Punkteverlust bringen.
Foto: "Der Spiegel", "SZ"

Österreichs Position ist also hervorragend – Staat und Gesellschaft funktionieren offenbar prächtig. Dennoch wird der Index mit Sorge betrachtet. Transparency International Österreich beklagt, man sei hierzulande nur im "Mittelfeld der westeuropäischen Staaten" und weniger gut gerankt als die Nachbarn Deutschland und Schweiz. Außerdem habe die Ibiza-Affäre noch keinen Einfluss auf den Index, weil die Zahlen zuvor erhoben wurden. Im nächsten Jahr werde Österreich weniger gut dastehen. Alarmismus trotz hervorragender Position ist verständlich, weil Transparency als Lobbyorganisation die öffentliche Aufmerksamkeit nutzt, um Forderungen zu stellen: Die neue Regierung müsse das geplante Informationsfreiheitsgesetz umsetzen und das Korruptionsstrafrecht verschärfen. So weit, so erwartbar. Aber was verbirgt sich hinter dem Index, welche Erkenntnisse bringt er?

Griffige Darstellung

Der Korruptionsperzeptionsindex wurde 1995 von dem deutschen Wirtschaftswissenschafter Johann Graf Lambsdorff für die damals noch junge Organisation Transparency International entwickelt. Es fehlte zuvor eine griffige Darstellung, wo und wie stark Korruption verbreitet war. Heute leben wir selbstverständlich in einer Welt der Ranglisten und Scores. 1995 stand die Entwicklung noch am Anfang. In den 1990ern war die hohe Zeit des Neoliberalismus. Rankings und Indizes verbreiteten sich. Zunächst im Bereich der Unternehmensbewertung, wo Shareholder-Value andere Unternehmensphilosophien ablösten, dann bei der Ermittlung der Kreditwürdigkeit von Staaten, später auch im Bereich der Leistungsfähigkeit von Verwaltung und Bildung bis hin zu Demokratieindizes.

Graf Lambsdorff gelang das Kunststück, diese Verfahren auf Korruption zu übertragen, indem er das Hauptproblem umging. Anders als die Bilanz eines Unternehmens kann man Korruption nicht messen. Was sollte man einer Messung auch zugrunde legen? Die Gesamtsumme gezahlter Bestechungsgelder? Die Anzahl von Gerichtsurteilen wegen Bestechung? Aber wie bestimmt man politische Korruption? Wie stellt man eine korrupte Elite in Zahlen dar?

Ein Meinungsbild

Der Index von Transparency löst das Problem, indem er den Ruf eines Landes für die Sache selbst nimmt. Nichts anderes meint das Wort "Perzeption": Der Korruptionsperzeptionsindex bildet die Meinung von Personen aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft über die betrachteten Länder ab. Von Beginn an hat Transparency von Statistikern viel Kritik für das Verfahren geerntet; darauf hat man reagiert. Das Verfahren wurde laufend verfeinert. Doch das Hauptproblem bleibt: Die Transparenzorganisation veröffentlicht einen intransparenten Index. Er ist nicht deshalb intransparent, weil die Methode geheim gehalten wird. Im Gegenteil: Transparency hat in den letzten Jahren stets umfangreiche Informationen über die Methodik und die statistischen Grundlagen veröffentlicht. Das Problem liegt in der Grundidee.

Da ist zum einen der Ranglistencharakter. Anders als bei Sportwettbewerben geht es ja nicht darum, wer schneller ist. Sondern um extrem komplexe gesellschaftliche Probleme, die oft nicht vergleichbar sind. Der Auf- oder Abstieg um mehrere Plätze ist letztlich insignifikant, schafft aber den dramatisierenden Eindruck von Verbesserung oder Verschlechterung. Auch die Vergleichseinheit "Staat" ist fraglich: Es gibt keinen Grund, warum Länder mit über einer Milliarde Einwohnern (China, Indien) und enormer Heterogenität im Ranking neben Stadtstaaten wie Singapur auftauchen. Und schließlich sind die Meinungen der Befragten kaum kontrollierbar: Urteilen sie nach Erfahrung oder Hörensagen? Was sind ihre Begriffe von Korruption, von Moral? Schon in der eigenen Familie wird man sich oft nicht auf eine gemeinsame Auffassung einigen können. Und hier liegt das Hauptproblem: Der Index bildet letztendlich sehr persönliche Urteile ab.

Fröhlicher Postkolonialismus

Dennoch gibt es erkennbare Muster: Im Korruptionsindex feiert der Postkolonialismus fröhliche Urständ. Je westlicher, industrialisierter und protestantischer ein Land, desto besser sein Wert. Skandinavien ist vorn. Hongkong liegt geradezu beschämend weit vor China. Ähnliches gilt im Mittelfeld: Die Ölstaaten der Arabischen Halbinsel liegen deutlich vor Iran. Russland findet sich im unteren Viertel. Das ist auch deshalb interessant, weil diese Landkarte so ähnlich bereits von den Europäern des Jahres 1900 gezeichnet worden wäre. Schon damals gab es ein klares Gefälle von West nach Ost und von Nord nach Süd in der Korruptionsperzeption. Auch wenn der Westen seit Donald Trump keine außenpolitische Größe mehr ist, im Korruptionsindex lebt er fort.

Was lernen wir also vom Korruptionsindex? Wir lernen, wie man die öffentliche Aufmerksamkeit auf ein Thema lenkt. Wir lernen, dass Länder mit Instabilität und demokratischen Defiziten von Entscheidern für korrupt gehalten werden. Über Korruption lernen wir sonst nicht viel. Denn Korruption ist eine knifflige Angelegenheit. Angenommen, der Fall Heinz-Christian Strache sorgt wirklich für einen Punkteverlust Österreichs im nächsten Korruptionsindex. Ist die Affäre ein Beweis für grassierende Käuflichkeit in Wien oder doch im Gegenteil ein Beleg für die Wehrhaftigkeit von Öffentlichkeit und Wählern? Der Index gibt uns jedenfalls keine Antwort. (Jens Ivo Engels, 26.1.2020)