Nachdenken, ausformulieren, beeinflussen. Das Prinzip einer Denkfabrik, oder eines Thinktanks, ist recht einfach erklärt: Man will die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft dazu bringen, bestimmte Ideen zu verfolgen und Strategien umzusetzen – entweder weil man sich einer bestimmten Ideologie verschrieben fühlt oder weil man eine Agenda pusht. Thinktanks, deren Name von abhörsicheren Orten ("tanks") zur Entwicklung militärischer Strategien kommt, ähneln bisweilen Lobbyinggruppen oder Interessenvertretungen. Aber auch mit Kammern, Bünden und Parteiakademien gibt es Überschneidungspunkte, was die Kategorisierung der Gruppen deutlich verkompliziert und die Zahl österreichischer Thinktanks in manch internationaler Studie gerne einmal nach oben treibt.

Neben rein akademischen Denkfabriken und semistaatlichen wie dem Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (Wifo) oder dem Institut für Höhere Studien (IHS) machen sich seit den 1980er-Jahren vor allem advokatorische Thinktanks breit, sagt Stephan Pühringer vom Institut für die Gesamtanalyse der Wirtschaft an der JKU Linz. Mit ein paar Jahren Verspätung gegenüber den USA, Großbritannien oder Deutschland würden sich seither vor allem neo liberale und industrienahe Thinktanks professionalisieren – ein Paradebeispiel: die 2013 gegründete Agenda Austria.

Die Liste österreichischer Denkfabriken wird immer länger.
Illustration: Fatih Aydogdu

Durch gelungene Öffentlichkeitsarbeit, teils üppige Ressourcen, bisweilen aggressive Rhetorik und anschauliche Aufbereitung der Ergebnisse hätten sie sich binnen weniger Jahre nicht nur zum einflussreichen Machtfaktor gemausert, so Pühringer, ihre Experten seien vielmehr mittlerweile so etabliert und deshalb so oft von Medien befragt, dass die Industrienähe und politische Agenda gerne vergessen wird.

Denken für die Politik

In jüngerer Vergangenheit legen sich zudem auch österreichische Parteien immer öfter ihre eigenen Denkfabriken zu. Heinz-Christian Straches Projekt "Denk zukunftsreich" musste zwar nach nicht einmal einer Veranstaltung die Segel streichen. Das Ibiza-Video hielt den Ex-Vizekanzler und den umstrittenen Historiker Thomas Grischany von deren Vordenkerrolle "zum Wohle des österreichischen Volkes" ab. Entstanden war die Idee wohl aber als Gegenpol zu Think Austria, dem Projekt von Sebastian Kurz.

Der 2018 gegründete Thinktank legte während der Expertinnenregierung von Altkanzlerin Brigitte Bierlein eine Pause ein, hat seine Denkarbeit aber nun wieder aufgenommen. Die Schwerpunkte haben sich unter Türkis-Grün etwas verändert, im Grunde solle es aber darum gehen, Österreich zukunftsfit zu machen. Wasserstoff, künstliche Intelligenz, Digitalisierung – das Programm überrascht kaum.

Pühringer sieht diese Entwicklungen skeptisch. Sie führe zu einem bewussten Verschwimmen von wissenschaftlicher Expertise und Interessenvertretung. Solch "advokatorische Thinktanks, welcher politischer Coleur auch immer, werden kaum Ergebnisse präsentieren, die den Sponsoren nicht gefallen". Erwartbare Empfehlungen "unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Unabhängigkeit" könnten die Folge sein.

Agenda Austria: Digitalisierung als Chance

Franz Schellhorn, Leiter der 2013 gegründeten Agenda Austria, glaubt, dass Österreich in 50 Jahren "aus seinem Tiefschlaf erwacht sein und Digitalisierung nicht mehr als Bedrohung, sondern als Chance ansehen wird". Die ausschließlich von Wirtschaftsunternehmen und vermögenden Privatpersonen gesponserte neoliberale Denkfabrik glaubt an Freiheit und Eigenverantwortung als wichtigste Bausteine für die bessere Zukunft eines möglichst schlanken Staates. Kinder sollen etwa begreifen, dass nichts gratis ist, sondern jede staatliche Leistung zunächst einmal erwirtschaftet werden musste. Durch weniger Bürokratie, Steuern und Freunderlwirtschaft bei einem Mehr an unternehmerischem Risiko, Selbstvertrauen und Transparenz könne das Leben aller verbessert werden – auch jener, "die auf Hilfe anderer angewiesen sind", sagt Schellhorn.

Franz Schellhorn fordert mehr Mut von der Industrie.
Foto: Standard / Christian Fischer

Dafür brauche es aber Verantwortliche in der Politik, die bereit seien, unliebsame, aber notwendige Modernisierungsmaßnahmen zu treffen. Man müsse dafür auch riskieren, einmal eine Wahl zu verlieren, so Schellhorn. Soziale Sicherungssysteme zu schützen, Digitalisierung zu gestalten und Bildungsarmut zu beseitigen, das seien die drei dringlichsten Aufgaben Österreichs in den kommenden Jahrzehnten.

Innerhalb Europas solle Österreich die Rolle des "beweglichen Schnellbootes" einnehmen, das etwa in Mobilitätsfragen und bei der Digitalisierung der Verwaltung zum Vorreiter werden soll. Aber auch in den Schulen, bei der Vereinbarkeit von Beruf und Arbeit und einem leistungsfördernden Sozialstaat solle Österreich vorangehen – ohne dabei neue Schulden zu machen. Neutralität dürfe zudem nicht mit Gleichgültigkeit verwechselt werden.

Momentum-Institut: Vermögensbesteuerung

Das erst 2019 gegründete Momentum-Institut agiert als Gegenpol zu neoliberalen Denkfabriken und will die "sozialen und wirtschaftlichen Interessen der vielen vertreten". Weil Menschen künftig ein Recht auf Arbeit hätten, werde etwa die hohe Arbeitslosigkeit der Vergangenheit angehören. Gleichzeitig sollen Arbeitende durch die gestiegene Produktivität mehr Kontrolle über die Verteilung ihrer Lebensarbeitszeit haben. Momentum sieht den sozialen Wohlfahrtsstaat dabei als Erfolgsmodell, das ausgebaut werden sollte, und will auch künftig für eine starke öffentliche Daseinsvorsorge und staatliche Investitionen eintreten, denn "existenzielle Risiken müssen gemeinsam geschultert werden". Ein qualitativ hochwertiges Netz sozialer Einrichtungen solle allen zur Verfügung stehen, dafür müssten aber auch alle ihren fairen Beitrag leisten. Möglich sei dies durch die stärkere Besteuerung großer Vermögen, Erbschaften und Vermögenszuwächse.

Durch staatliche Infrastruktur, einen bewussteren Umgang mit Energie und Sanktionierung klimaschädlichen Verhaltens werde man Verhaltensänderungen erreichen und so europaweit eine vorbildhafte Klimapolitik betreiben. Momentum hofft auf ein gestärktes Parlament und eine politische Kultur mit Teilhabe aller hier Lebenden, ohne Xenophobie und Sündenböcke. Die Schere zwischen Arm und Reich müsse geschlossen werden und jedes Kind vom Bildungssystem profitieren.

Die EU müsse sich von einer Wirtschaftsgemeinschaft hin zu einer Sozialunion entwickeln – mit gemeinsamen Mindestlöhnen und Sozialversicherungen und weiteren sozialen Grundrechten.

Think Austria: Neue Treibstoffe und KI

Die von Sebastian Kurz wiederbelebte Denkfabrik Think Austria glaubt daran, dass Wohlstand, Nachhaltigkeit und sozialer Ausgleich zugleich erreicht werden können. Antonella Mei-Pochtler, Leiterin der Denkfabrik, ist dabei vor allem von der Innovationskraft österreichischer Unternehmen überzeugt. Um über bestmögliches Personal zu verfügen, müsse man einerseits früh im Bildungssystem ansetzen, aber auch daran arbeiten, nicht nur die besten Ideen und Lösungen, sondern auch "die relevanten Experten sowie Talente nach Österreich zu bringen". Unabhängig von ihrer Herkunft sollen Österreicherinnen und Österreicher die Chance haben, "sich ihren Talenten und Interessen entsprechend zu verwirklichen und umfassend am Erfolg unseres Landes teilzuhaben".

Bundeskanzler Sebastian Kurz ist seit längerem ganz begeistert von der Idee von Wasserstofftankstellen.
Foto: APA/Harald Schneider

Die großen Transformationsprozesse sollen nach dem Schumpeter'schen Prinzip der "schöpferischen Zerstörung" erfolgen. So sollen etwa die Industrie und die Landwirtschaft digitalisiert und der Gesundheitsbereich durch künstliche Intelligenz umgekrempelt werden. Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft sollen in unbürokratischer und kooperativer Art und Weise zusammenarbeiten und Österreich so etwa bei alternativen Treibstoffen oder auch Quantentechnologie "in der Spitzenliga spielen" lassen. "Die europäischen Nachhaltigkeitschampions aus Österreich" werden dann "zu den wertorientiertesten und wertvollsten Unternehmen der Welt" gehören, glaubt Mei-Pochtler.

Dadurch würden nicht nur neue Berufswege und -formen entstehen, sondern auch neue Beschäftigungsverhältnisse. Wichtig sei dabei, möglichst viele Menschen zu inkludieren und "Flexibilität und Sicherheit bis ins hohe Alter" zu bieten.

Hayek-Institut: Weniger Bürokratie und Schulden

Das neoliberale Hayek-Institut, 1993 – ein Jahr nach dem Ableben des österreichischen Wirtschaftsnobelpreisträgers Friedrich August von Hayek – gegründet, sieht zwei Visionen für Österreich im Jahr 2070. Im besten Fall haben sich durch kulturelle Diversität "ungeahnte wirtschaftliche Möglichkeiten" aufgetan. Dazu will man mit der Institutsarbeit beitragen, erklärt Kai Weiß. In einem Worst-Case-Szenario entfaltet das soziale Ungleichgewicht aber negative Nebeneffekte.

Generell will sich das Hayek-Institut aber vielen kleinen Visionen widmen, "die sich dann zu der großen zusammenfügen". Individuelle Freiheit und Stabilität stehen dabei an erster Stelle. So dürfe etwa " Vater Staat seiner übergroßen Neigung, seine Kinder zu beschützen und damit zu bevormunden, nicht mehr in diesem Ausmaß nachgeben". Alle Regulierungen, Steuern, Vorschriften und Richtlinien müssten auf ihre Zweckmäßigkeit und unerwünschten Folgen überprüft werden, nur so könne Kreativität, Wettbewerb und unternehmerische Freiheit zu Wohlstand führen, heißt es seitens des Instituts.

Als größtes Hindernis auf dem Weg zu einer wahrlich freien Marktwirtschaft sieht man die Staatsschulden und die Bürokratie. Die Finanzierung künftiger Pensionen, der Bildungs- und Gesundheitssysteme, des Umweltschutzes und der Technologieentwicklung dürfe man nicht abgekoppelt von unseren heutigen Defiziten betrachten. Die EU will man dort unterstützen, wo innereuropäische Kooperation Mehrwert für Mitgliedsstaaten stiftet. Ihre Rolle sei die "Verteidigung und Förderung der Freiheit, des Freihandels, der Demokratie."

Austrian Economics Center: Weniger Staat

Auch das 2007 gegründete Austrian Economics Center (AEC) steht in der Tradition der sogenannten Österreichischen Schule der Nationalökonomie. Der neoliberale Thinktank sieht Österreichs Wettbewerbsfähigkeit vor allem aufgrund der Größe des öffentlichen Sektors gefährdet. Man wünscht sich deshalb eine politische Landschaft sowie eine Infrastruktur, "die individuelle und wirtschaftliche Freiheit, Selbstbestimmtheit und Eigenverantwortung sowie Solidarität aus innerem Antrieb" erlauben – sprich: weniger Staat.

Weniger Staat, mehr freier Markt. Das fordern viele neoliberale Thinktanks.
Foto: APA/AFP/JOHANNES EISELE

Es müsse langfristiger gedacht und weniger reguliert werden – vor allem was Innovationen anbelangt. Neuerungen würden Zeit brauchen. "Das Sich-Einpendeln des Marktes ist ein natürlicher Prozess, der durch voreilige Regulierung – die dann ständiges Nachbessern erfordert – verhindert wird." Sorge bereitet Scott Nelson vom AEC der demografische Wandel, das alternde Österreich und die damit verbundenen finanziellen Herausforderungen, vor allem in den Bereichen Pflege, Medizin und Pensionen. Auch in den Bereichen Bildung, Migration, Umweltschutz, Nachhaltigkeit und Sicherheit seien große, wenn auch nicht so kostspielige Veränderungen zu erwarten, so das AEC. Der Staat solle Rahmenbedingungen schaffen, die es jedem Einzelnen erlaubten, eine individuelle Lösung in Eigenverantwortung zu finden.

"Als kleines Land auf einem kleinen Kontinent haben Österreichs Beiträge seit jeher seine Größe übertroffen", ist Nelson überzeugt. Europas Schönheit, Wachstum und Reichtum könnten nur durch nachhaltige Marktwirtschaft und Freiheit garantiert werden.

Ponto: Außenpolitisches Alleinstellungsmerkmal

Noch nicht einmal zwei Jahre alt ist der von jungen Studentinnen und Akademikern gegründete außenpolitische Thinktank Ponto, der eigenständig innerhalb eines europäischen Kollektivs agiert. Österreich soll nach ihren Ansichten im Jahr 2070 möglichst innovativ, inklusiv und weltoffen sein. Dafür müssten unbedingt auch "die Lösungsansätze unserer Generation in den politischen Diskurs eingebracht werden", heißt es bei der parteiunabhängigen Denkfabrik. Ein Dialog dürfe nicht auf populistischen Forderungen, sondern müsse stets auf evidenzbasiertem und sachlichem Dialog beruhen. Bei Ponto sieht man vor allem im Bereich der Transparenz, bei der Digitalisierung und bei sozialen Ungleichheiten Aufholbedarf. Um der Klimakrise zumindest noch ansatzweise entgegenzuwirken, brauche es mehr Aufmerksamkeit und Maßnahmen, die für die Wirtschaft mitunter unpopulär sein können.

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Österreichs Außenpolitik braucht ein Alleinstellungsmerkmal, fordert Ponto.
Foto: REUTERS/Yves Herman

Als außenpolitischer Thinktank hat Ponto eine recht umfangreiche Position zu Österreichs künftiger Rolle in Europa. Um in der EU und darüber hinaus weiterhin als diplomatischer Vermittler angesehen zu werden, müsse eine verlässliche Position eingenommen werden, die auch über Legislaturperioden hinaus Bestand habe. So sei es unschlüssig, wenn sich Österreich als Vorreiter für Menschenrechte und effektiven Multilateralismus sehe, dann aber dem UN-Migrationspakt nicht beitrete. Ponto plädiert deshalb dafür, ein außenpolitisches Alleinstellungsmerkmal zu etablieren, wie es etwa Schweden mit seiner feministischen Außenpolitik oder Estland mit seinen E-Democracy-Initiativen bewerkstelligt hat. (Fabian Sommavilla, 31.1.2020)