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Arachnophobiker, aufgepasst! Bei der Lektüre dieses Buchs könnten sie ihre Lieblingsangst abbauen (und wer will das schon?), so sehr versteht es Adrian Tchaikovsky, uns die Achtbeiner sympathisch zu machen. Der britische Autor ist damit dem Krabbelgetier treu geblieben, auch wenn er das Genre gewechselt hat.

Denn Rundschau-Veteranen erinnern sich vielleicht noch an Tchaikovskys "Die Schwarmkriege". Das damalige Szenario von Menschen, die die Welt von Rieseninsekten geerbt und einige von deren Eigenschaften angenommen haben, lief noch unter Fantasy respektive Steampunk. "Die Kinder der Zeit" hingegen ist glasklar Science Fiction: ein Evolutionsepos mit großem Gestus ganz im Stil von Stephen Baxter.

Murphy's Law schlägt zu

Gehen wir's chronologisch an: Am Ende unseres Zeitalters wurden Raumschiffe ausgeschickt, um Exoplaneten zu terraformieren. Eine solche Expedition leitete die selbstherrliche Wissenschafterin Avrana Kern ("Im ganzen Universum werden wir die Saat der Erde ausbringen."), doch die ging durch Sabotage gräulich schief. Die Affen, die auf dem Planeten angesiedelt werden sollten, verglühten in der Atmosphäre, und das Uplift-Virus (David Brin lässt grüßen), das die Affen annähernd menschlich machen sollte, suchte sich neue Zielobjekte. Die fand es unter den Gliederfüßern: Ameisen, Fangschreckenkrebse, vor allem aber Springspinnen. Mit jeder neuen Generation wurden diese nicht nur größer, sondern auch intelligenter.

Avrana Kern machte derweil ihre ganz eigene Evolution durch. Als die Zivilisation im Bürgerkrieg versank und der Kontakt zur Erde abriss, blieb Kern allein an Bord einer Station im Orbit um "ihre" Welt zurück, während ihr digitalisiertes Bewusstsein langsam mit der bordeigenen KI verschmolz. Dort kreist die längst wahnsinnig Gewordene noch Jahrtausende später, als Besucher eintreffen und die eigentliche Romanhandlung beginnt.

Die (vielleicht) Letzten der Menschheit

Das Raumschiff "Gilgamesch" hat massenweise Flüchtlinge von der Erde an Bord. Einer der wenigen, die aus dem Kälteschlaf geweckt wurden, ist Hauptfigur Holsten Mason, ein Altertumsforscher – soll heißen: ein Experte für unser Zeitalter, das Alte Imperium. Seit dessen Ende ist eine ganze Eiszeit gekommen und wieder gegangen, doch über den Rückzug der Gletscher konnte sich die neue Zivilisation nur kurz freuen. Das zu Tage tretende Giftmüll-Erbe unserer Ära hat die Erde unbewohnbar gemacht, nur wenige Archen wie die "Gilgamesch" konnten noch ausgeschickt werden: eine letzte Kraftanstrengung, um mit ausgeschlachteter Imperiumstechnologie die geringeren Nachfahren der alten Menschheit in Sicherheit zu bringen.

Für die Menschen an Bord ist die Besiedlung des Planeten also eine Überlebensfrage – doch leider wird ihnen der Zugang von Avrana Kern und ihrer überlegenen Technik verwehrt. Sie werden auf einen Ausweichkurs gezwungen, der noch einmal Jahrhunderte verstreichen lassen wird. Und während all dieser Zeit läuft die Spinnen-Evolution auf dem Planeten munter weiter.

Tchaikovsky macht den Baxter

Der eingangs gezogene Vergleich mit Stephen Baxter war nicht nur so dahingesagt, Tchaikovsky ist hier wirklich sehr im Baxter-Stil unterwegs. Dazu gehört auch der Kniff, jede Stufe der Spinnen-Evolution – von Tieren bis zu den Trägern einer Hochkultur – anhand einer Stellvertreterin zu beschreiben. Die trägt nach der lateinischen Bezeichnung einer Springspinnen-Gattung stets den Namen Portia; anders als bei Holsten handelt es sich bei dieser "zweiten Hauptfigur" aber natürlich um lauter verschiedene Individuen.

Eine andere Parallele ist eine Erzählweise, die Baxter oft als "kalt" vorgeworfen wird und die sich hier ebenfalls wiederfindet. Ein Beispiel: Einer Gruppe von Meuterern gelingt die verbotene Landung auf dem Planeten. Kurz darauf werden sie im Auftrag des Captains getötet oder zurückgeholt; nur eine Frau entkommt. Deren weiteres Schicksal erfahren wir dann nur indirekt, nämlich aus der Warte der Spinnen. Es bleibt bei einer beiläufigen Erwähnung, dass da einige Jahre ein seltsames Wesen bei ihnen in Gefangenschaft lebte, das schließlich starb und seziert wurde.

Bezeichnend auch, dass alles, was die Protagonisten denken und tun, in direktem Zusammenhang mit den geschilderten Vorgängen steht. Für seelischen Tiefgang ist kaum Platz – nicht einmal Holsten scheint nebenher ein Privatleben zu haben, das die Figur abrunden würde. "Kalt" ist das alles aber weder von Baxter noch von Tchaikovsky beabsichtigt: Beide denken eben in der Kategorie von Spezies, nicht von Individuen. Und auf Spezies-Ebene finden wir all das wieder, was wir uns sonst von einer guten Romanfigur erwarten würden: Hintergründe, Sorgen, Hoffnungen und alles andere.

Clash der Spezies

Für die Spinnen hat sich Tchaikovsky übrigens einiges ausgedacht, um sie nicht allzu menschlich erscheinen zu lassen: von anderen Schwerpunkten bei der Sinneswahrnehmung bis hin zur Fähigkeit, neugewonnene Informationen in ihr Erbgut einzubauen. Im übertragenen Sinne menschlich werden sie aber umso mehr, wenn wir mitverfolgen, wie sie auf ihrem evolutionären Aufstieg eine Hürde nach der anderen nehmen: von der Behauptung gegenüber körperlich überlegenen Tierarten über den Aufbau einer Zivilisation, den Kampf um Gleichberechtigung für das schwächere Geschlecht (in dem Fall das männliche) und Glaubenskriege, die die Irre im Orbit verursacht, weil sie ihre "Kinder" auf der Planetenoberfläche mit göttlichen Botschaften verwirrt. Selbst übrigens immer noch im Glauben, da unten lebten Affen.

Damit stellt sich ein interessanter Effekt ein, je länger man liest: Mit jeder bewältigten Herausforderung wächst der Respekt gegenüber den Spinnen, während der gegenüber den Menschen und ihren ständigen Querelen schwindet. Immer mehr verfestigt sich der Eindruck, dass die – letzten oder nicht – Menschen in einer Sackgasse gelandet sind. Tchaikovsky unterstreicht das auch formal, indem er die Kapitel der von Weiterentwicklung und ständigen Innovationen geprägten Spinnen im Präsens schildert, während die Kapitel der Menschen im Imperfekt erzählt werden – passend zur Rückwärtsgewandtheit ihres Denkens. Oder wie es Holsten ausdrückt:

Das leuchtende Vorbild des Alten Imperiums hatte Holstens gesamte Zivilisation zu dem Irrweg der ewigen Imitation verleitet. Indem sie versucht hatten, die Altvorderen zu sein, hatten sie ihr eigenes Schicksal besiegelt, hatten weder deren noch andere Höhen erklommen und waren stattdessen zu Mittelmäßigkeit und ewigem Neid verdammt gewesen.

Sehr empfehlenswert!

"Die Kinder der Zeit" – für mich die positive Überraschung des Frühlings – bringt in großartiger Weise zwei gänzlich unterschiedliche Spezies auf Kollisionskurs. Beide haben aber das gleiche Recht zu überleben. Wenn also die "Gilgamesch" von ihrem langen Ausweichkurs zur Welt der Spinnen zurückkehrt, wird alles auf die Frage hinauslaufen: Kann es zu einer Koexistenz kommen oder wird eine der beiden Spezies ausgelöscht – und wenn ja, welche?