Jeder zweite unbegleitete Minderjährige, der in Österreich um Asyl ansucht, verschwindet noch vor seiner Zulassung zum Verfahren.

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Wien – Mehr als 50 Prozent aller Kinder und Jugendlichen, die ohne Eltern in Österreich um Asyl ansuchen, verschwinden – kurz nachdem sie ihren Antrag gestellt haben. Das zeigt die Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage der Abgeordneten Stephanie Krisper (Neos) durch den ehemaligen Innenminister Wolfgang Peschorn.

Dieser zufolge wurde bei 471 der insgesamt 845 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge (UMF), die zwischen Jänner und Oktober 2019 einen Asylantrag in Österreich gestellt haben, das Verfahren eingestellt, bevor es offiziell zugelassen wurde. Dies geschieht laut Anfragebeantwortung dann, "wenn sich der Asylwerber dem Verfahren entzieht oder freiwillig ausreist". Über den Verbleib dieser Kinder können die österreichischen Behörden nur spekulieren.

Außerdem gibt es niemanden, der für sie die Obsorge innehat, also keine Person oder Behörde, die für Pflege, Erziehung und rechtliche Vertretung dieser Minderjährigen zuständig ist. "Kinderrechte gelten genauso für Kinder auf der Flucht", kritisiert die Vorsitzende der Bundesjugendvertretung, Caroline Pavitsits, und fordert die Einhaltung der UN-Kinderrechtskonvention, also eine Übernahme der Obsorge ab dem ersten Tag.

Weiterreise in andere EU-Länder

"Durch das Stellen des Asylantrags haben diese 845 Kinder klargemacht, dass sie in Österreich ein Asylverfahren durchlaufen möchten", sagt Lisa Wolfsegger, UMF-Expertin der Asylkoordination Österreich. Zu der Frage, was man über den Verbleib der 471 abgängigen Kinder weiß, heißt es aus dem Innenministerium (BMI) auf Anfrage des STANDARD: "Die meisten dieser Personen sind erfahrungsgemäß in ein anderes europäisches Zielland weitergereist."

Viele Minderjährige würden weiterreisen, bestätigt Wolfsegger, weil sie auf der Flucht nach Österreich bereits in anderen EU-Ländern registriert wurden und Angst hätten, aufgrund der Dublin-Verordnung in Länder wie Bulgarien oder Ungarn abgeschoben zu werden. Wegen fehlender Rechtsberatung wüssten sie oft nicht, dass diese Verordnung für Minderjährige außer Kraft gesetzt ist.

Dass ein Teil der abgängigen Kinder auch Opfer von Menschenhandel wird, "können wir zumindest nicht ausschließen", sagt Christoph Riedl, Migrationsexperte der Diakonie. Die europäische Polizeibehörde Europol hat bereits 2016 darauf aufmerksam gemacht, dass in der EU insgesamt 10.000 Kinderflüchtlinge vermisst werden, und erklärte außerdem, dass es Beweise dafür gebe, dass ein Teil dieser Kinder Opfer von Menschenhandel und Prostitution wird.

Widerspruch in der Vorgehensweise des Innenministeriums

Zur Frage, welche Schritte die österreichischen Behörden setzen, wenn Minderjährige vermisst werden, heißt es in der Anfragebeantwortung, dass bei unter 14-Jährigen eine Vermisstenanzeige aufgegeben wird, und bei jenen, die über 14 Jahre alt sind, eine Meldung an den Obsorgeträger getätigt wird.

Hier besteht allerdings ein Widerspruch. "Bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen im Zulassungsverfahren gibt es keinen Obsorgeträger, da sich die zuständige Kinder- und Jugendhilfe (KJH) im Bezirk der Erstaufnahmestelle Traiskirchen weigert, die Obsorge zu übernehmen", schreibt Wolfsegger. Tatsächlich kann das Jugendamt die Obsorge aber nur bei Gefahr in Verzug einseitig übernehmen. Ansonsten muss sie bei Gericht beantragt und von einem Richter übertragen werden.

Zur Frage, wie lange unbegleitete Minderjährige durchschnittlich in Traiskirchen untergebracht sind, führt das BMI keine Statistiken.

Unterschiedliche Ansichten zur Obsorge

Warum beantragt die Jugendhilfe also nicht einfach standardmäßig für alle unbegleiteten Flüchtlingskinder die Obsorge? Vom Land Niederösterreich heißt es dazu, dass eine solche Übertragung immer auch bedeute, dass die Obsorge den Eltern entzogen wird. Laut Judikatur des Obersten Gerichtshofs (OGH) sei deshalb immer zu prüfen, ob sie nicht auch an andere Verwandte oder nahestehende Personen übertragen werden kann. Im Zulassungsverfahren werde eben geprüft, ob solche geeigneten Personen greifbar sind.

Im Innenministerium sieht man das anders. Die Kinder- und Jugendhilfe sei sehr wohl zuständig, "sobald ein Minderjähriger im Inland unbegleitet aufgegriffen wird", heißt es dort auf Anfrage.

"In anderen EU-Ländern wie Deutschland ist die Obsorge ab dem ersten Tag rechtlich verankert", sagt Christoph Riedl. Wenn in Deutschland ein Minderjähriger ohne Erziehungsberechtigte aufgegriffen wird, wird er ab dem ersten Tag in die Obhut des Jugendamtes übergeben und per Notverordnung ein Vormund bestellt. Dieser bleibt dann für die Wahrung des Kindeswohls zuständig, sogar über eine mögliche Abschiebung hinaus. Erst wenn sie von einem Gericht aufgehoben wird, endet die Vormundschaft.

Verbesserungen sind Teil des Regierungsprogramms

Möglicherweise könnte die türkis-grüne Regierung nun neue Maßstäbe in Bezug auf die Obsorge von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen setzen. Im Regierungsprogramm ist nämlich unter dem Kapitel Migration das Ziel enthalten, "Schutz und Rechtsstellung von geflüchteten Kindern" zu verbessern. Insbesondere für eine "schnelle Obsorge für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge durch die Kinder- und Jugendhilfe und Berücksichtigung des Kindeswohls im Asylverfahren" soll demnach gesorgt werden.

Ob das bedeutet, dass die Obsorge in Zukunft ab dem ersten Tag übernommen werden soll, darauf will man sich im Familienministerium noch nicht festlegen. Dafür sei es zu früh, und das Thema betreffe schließlich auch noch das Innen- und Justizministerium, so ein Sprecher von Ministerin Christine Aschbacher (ÖVP). (Johannes Pucher, 6.2.2020)