Der Brexit hat schon genug ernsthafte Seiten – Literatur und Street-Art schaffen auch Unterhaltsames.

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Es gab Zeiten, in denen sich kaum jemand für Jonathan Coes Romane interessierte. "Da kam der Erstverkaufstag, ich gab drei Interviews. Und fertig." Die Verkaufszahlen waren entsprechend, und dennoch empfindet der heute 58-Jährige ein wenig Nostalgie bei der Erinnerung an jene längst versunkenen Tage – reumütige Nostalgie, wie er sofort hinzufügt. Denn natürlich sei es viel schöner, gefragt zu sein und Bestseller wie "Allein mit Shirley" (1994) oder "Das Haus des Schlafes" (1997) zu schreiben.

Seither zählt Coe zu den beliebtesten und wichtigsten Autoren der englischen Gegenwartsliteratur. Zu Jahresbeginn hat ihm ein Preis zusätzliche Aufmerksamkeit verschafft: Mit seinem jüngsten Werk "Middle England" gewann Coe den mit 5000 Pfund dotierten Costa-Preis für den besten Roman 2019.

"Perfekter Brexit-Roman"

Er habe den "perfekten Brexit-Roman" geschrieben, schwärmten Rezensenten schon vor Monaten. Costa-Juror John Boyne teilt die Begeisterung: "Mehr als alles, was ich in Zeitungen oder Sachbüchern las, hat mich 'Middle England' verstehen gelehrt, wie es zum Austrittsvotum kam."

Tatsächlich spielt das Buch in der unmittelbaren Vergangenheit, beginnend im Vorfeld der Unterhauswahl 2010, und behandelt die Themen politische Korrektheit, den Gegensatz zwischen der Metropole London und den vernachlässigten Regionen Englands, Immigration und Fremdenfeindlichkeit – Faktoren, die beim Referendum 2016 eine Rolle spielten.

Fragen wir also den Autor, wie er sein Land sieht, wenige Tage vor dem Datum, das eine Umwälzung einleitet. Das Troubadour im West-Londoner Stadtteil Earl's Court könnte als Gesprächsort kaum angemessener sein: Das gemütliche Musiklokal wirkt, als habe sich beim Dekor seit Großbritanniens Eintritt in die EWG 1973 wenig verändert. Und schließlich zählt die Musik, ebenso wie der Film, zu Coes Leidenschaften: Lang spielte er selbst Keyboard in einer Progressive-Rock-Band.

Kein "Brexit-Roman"

Coe spricht kenntnisreich über den bevorstehenden EU-Austritt und seine Wurzeln – Middle England aber mag er nicht als "Brexit-Roman" kategorisieren. Die Entstehung des Buches habe mehr mit den Charakteren zu tun, die schon "Erste Riten" (2001) und "Klassentreffen" (2004) bevölkerten: allen voran Benjamin Trotter, ein komisch verzerrtes Selbstporträt des Autors.

"Normalerweise sterben meine Charaktere in dem Moment, in dem ich den letzten Punkt setze", erklärt der Schriftsteller. "Diese aber existierten einfach weiter in meinem Kopf. Es war erstaunlich leicht, sie wiederzubeleben."

Als er seiner Lektorin von ersten Skizzen berichtete, habe diese enthusiastisch reagiert und von einer neuen "Bestandsaufnahme der Nation" geschwärmt. Tatsächlich beruht Coes Ruhm nicht zuletzt darauf, dass er schon in früheren Romanen auf einfühlsame Weise die Stimmungslage des Landes eingefangen hat. "Ich selbst hatte das gar nicht so gesehen. Ich wollte einfach nur die Figuren von damals beschreiben in dem Alter, wenn sie über 50 sind."

Freilich gesellen sich allerlei Charaktere hinzu, mit mehr oder weniger typischen Brexit-Positionen. Von den Kritikern und der Costa-Jury erfuhr Coe großes Lob dafür, dass er, obwohl selbst überzeugter EU-Freund, sich diesen Figuren mit hoher Empathie nähert. Wie er das geschafft hat?

"Beide Seiten sehen"

Zum einen, berichtet der Autor, kenne er allerlei Menschen, darunter frühere Studienfreunde und entfernte Verwandte, die schon lange vor dem Referendum auf die EU schimpften. Zum anderen trägt wohl seine Persönlichkeit zur empathischen Art des Schreibens bei: "Ich bin ein ziemlich unentschlossener Mensch und tendiere dazu, immer beide Seiten einer Medaille zu sehen."

Bekanntermaßen schrieb der heutige Premierminister Boris Johnson je einen Artikel für und gegen die britische EU-Mitgliedschaft, ehe er sich an die Spitze der Austrittsbewegung setzte. Schwankte Coe auch? Keineswegs. "Mein Bauchgefühl sagte mir immer, dass der Kern der Brexit-Bewegung verrottet war. Übrigens haben, denke ich, 95 Prozent der Leute aus dem Bauch heraus entschieden."

Humor und Sprachwitz

Der in Wien und Bozen ansässige Folio-Verlag bewirbt Coe mit dem Kompliment, er gehöre zu den witzigsten zeitgenössischen Autoren der englischen Literatur. Auch in der Heimat wird er häufig zu den "komischen Schriftstellern" gezählt. Coes Prosa liest sich ausgesprochen vergnüglich, aber mag er die Kategorisierung? "Ich mache die Unterscheidung zwischen Komödie und großem Ernst nicht", erwidert der Autor diplomatisch. "Ich versuche das Leben abzubilden, und darin kommt schließlich auch beides vor."

Dass Humor und Sprachwitz auf der Insel eine herausragende Rolle spielen, lässt sich nicht zuletzt an der Politik ablesen. "Einen großen Teil von Boris Johnsons Erfolg macht aus, dass er die Leute zum Lachen bringt", analysiert Coe. Im Vorfeld der Wahl habe die Linke, zu der sich der Labour-Wähler zählt, diesen Faktor unterschätzt. "Dabei ist unsere Politik sehr theatralisch, die Briten fordern Drama im Unterhaus. Da ist Johnson in seinem Element."

Wie nun tun mit dem Brexit? "Ich kenne die Antwort nicht, und Johnson scheint sie auch nicht zu kennen", ist Coe überzeugt.

Eine Hoffnung gibt es immerhin: Trotter & Co spuken auch weiterhin in Coes Kopf herum. Sollte er "so lang verschont bleiben", werde er in zehn bis 15 Jahren einen vierten Band über die Charaktere vorlegen. Doch ob sich bis dahin die Brexit-Turbulenzen gelegt haben werden? (Sebastian Borger aus London, 29.1.2020)