Produktive Irritation: Bernhard Pörksen.

Foto: Peter-Andreas Hassiepen

Vor gut zehn Jahren schrieb der Netzphilosoph Peter Glaser einen prophetischen Essay, in dem er die Digitalisierung als eine "kulturelle Atomkraft" vorstellbar machte. Das Wesen der Digitalisierung, so Glasers These, besteht darin, dass auf einmal alles teilbar, kombinierbar und transferierbar wird.

Traditionelle Materialverbindungen lassen sich knacken. Und es wird es möglich, Kulturgüter in Einzelteile zu zerlegen – aus der Schallplatte den einzelnen Song herausziehen, aus dem Buch das spezielle Kapitel, aus dem Film die Minute, die scheinbar alles zeigt, aus der Zeitung die eine Schlagzeile, den einen Satz. Das Grundmodell der Informationsorganisation und –präsentation hat sich damit radikal geändert.

Selbst geschaffene Wirklichkeitsblasen

Aus dem senderseitig geschnürten "Nachrichten-Paket" mit übergreifendem Anspruch ist die empfängerseitig kuratierte Privatwirklichkeit geworden, das individuelle, von persönlich-privaten Interessen bestimmte Kombinationsprodukt. Und Menschen können sich jetzt leichter denn je in selbstgeschaffene Wirklichkeitsblasen und Echokammern der Marke Eigenbau zurückziehen – ohne für die Agenda der Allgemeinheit noch erreichbar zu sein. Die Folge: Abschottung, Polarisierung, die Fragmentierung des großen gesellschaftlichen Gesprächs.

Hat die Zeitung unter diesen Bedingungen und in dem aktuell beobachtbaren Zusammenspiel von Vertrauens- und Refinanzierungskrise noch eine Chance? Meine Antwort: Sie sollte, sie muss diese Chance haben, eben dafür lohnt es sich heute zu streiten.

Und hier sind die unterschiedlichsten Kräfte gefragt: die Politik, die Verlage, die Zivilgesellschaft, auch die akademische Welt, die sich in Zeiten der Drittmittelhetze und der Klein-klein-Spezialaufsätze gelegentlich etwas mehr Wirklichkeitsnähe zumuten darf.

Denn dass die Idee der Zeitung im Sinne einer produktiven Irritation und einer seriös informierenden Verbindung verschiedener Milieus – auf welcher Plattform auch immer – überlebt, ist für die Lebendigkeit unserer Diskurse und Debatten unabdingbar. Es braucht, gerade jetzt und gerade heute, die Integration unterschiedlicher Perspektiven.

Für die Demokratie systemrelevant

Noch einmal: Seriöse Zeitungen werden, empirisch gesprochen, überall in Europa schwächer, aber, normativ betrachtet, wichtiger. Das Leuchtturm-Prinzip von Öffentlichkeit, die effektive Skandalisierung des tatsächlich Skandalösen, der ausreichend respektvolle Streit, der von publizistischen Orten und stabilen Institutionen lebt – all dies ist für eine funktionierende Demokratie unbedingt systemrelevant. (Bernhard Pörksen, 29.1.2020)