Zwecks stärkerer Verdeutlichung der inneren Stimme "haben wir die Figur der Leonore mit einer Schauspielerin verdoppelt", erzählt die Regisseurin Amélie Niermeyer.

Michael Pöhn/Staatsoper

Amélie Niermeyer, geboren in Bonn, ist von Beethoven geprägt.

APA/Neubauer

Der Schlusschor des Ur-Fidelio entwickele sich "ganz langsam und bekommt dann aber eine unglaubliche Dringlichkeit", findet Amélie Niermeyer: "Das haut einen echt um! So was kann nur Beethoven!" Die – wie Beethoven – in Bonn geborene Regisseurin zeigt trotz dieser Faszination durchaus aber Courage bei der Deutung der Oper, welche am Samstag in ihrer Urfassung präsentiert wird. Es gibt neue Texte, verdoppelte Hauptfiguren und eine starke Betonung politischer Visionen.

STANDARD: Die politischen Umstände bei der Uraufführung von "Fidelio" am 20. November 1805 im Theater an der Wien waren abenteuerlich. Der Kaiser war samt Hofstaat aus Wien geflohen, französische Truppen besetzten die Stadt, in Schloss Schönbrunn residierte Napoleon. Es verwundert, dass damals überhaupt Oper gespielt wurde!

Niermeyer: Es war definitiv eine sehr ungünstige Zeit für eine Uraufführung, die Stadt war in Unruhe. Ist die Premiere möglicherweise deswegen durchgefallen? Das kann man im Nachhinein schwer sagen.

STANDARD: Jedenfalls hat Beethoven die Oper schon nach kurzer Zeit umgearbeitet.

Niermeyer: Und manche Veränderungen waren sinnvoll. So erreicht etwa die Florestan-Arie im dritten "Fidelio" eine ganz andere Dimension als in der Urfassung. Auch hat Beethoven den Singspielteil gekürzt, wodurch das Werk an Wucht gewonnen hat und politischer geworden ist. Im "Fidelio" von 1814 werden am Ende die Ideale der Französischen Revolution betont. In der Urfassung wird der König vom Minister als weiser Richter beschworen. Die Situation ist kafkaesk: Erst scheint Rocco der Chef zu sein, dann Pizarro, dann der Minister, dann der König. Alles wird wegdelegiert.

STANDARD: Werden die Figuren im Ur-"Fidelio" anders gezeichnet?

Niermeyer: Durch das zusätzliche Duett und Terzett haben die Figuren in der Urfassung im Singspielteil mehr Raum. Auch die Leonoren-Arie ist spannender: Die unendlich langen Koloraturen verdeutlichen ihren Entscheidungskampf. Und dann gibt es in der Urfassung auch noch das Duett von Leonore und Marzelline. Wir zeigen die Beziehung zwischen den beiden so, dass Marzelline schon länger klar ist, dass Fidelio eine Frau ist. Aber es ist ihr egal, da sie diesen Menschen liebt – den Charakter, nicht sein Geschlecht.

STANDARD: Apropos "Leonore": In der Oper sind die großen Frauen figuren ja schwärmerisch oder schwindsüchtig veranlagt, fallen dem Wahnsinn anheim oder bringen Männer um. Ist eine mutige, widerständige Figur wie Leonore für eine Regisseurin eine Wohltat?

Niermeyer: Ja. Leonore ist eine Frau, die die Dinge in die Hand nimmt, politisch agiert. Sie geht in dieses Männersystem, dieses Gefängnis und setzt sich durch. Sie ist eine Frau, die zuerst aus Liebe etwas verändern will, ihren Mann aus dem Gefängnis befreien will. Aber dann entwickelt sie sich und kämpft gegen ein ganzes System.

STANDARD: Sie haben sich entschlossen, die Dialoge der Urfassung neu schreiben zu lassen. Warum? Wollten Sie auch dem Ur-"Fidelio" eine politischere Stoßkraft geben?

Niermeyer: Die Dialoge von Sonnleithner wurden schon immer kritisiert, sie sind sprachlich und dramaturgisch nicht einfach. Wir haben mit Moritz Rinke eine neue Textfassung erarbeitet, in der wir den Fokus ganz auf Leonore richten. Entstanden ist ein innerer Monolog, sie redet sozusagen mit sich selbst. Dadurch können ihre Selbstzweifel, ihre inneren Kämpfe, ihre neuen Ideen ausgedrückt werden. Da sie selbst die Adressatin dieser inneren Stimme ist, haben wir die Figur der Leonore mit einer Schauspielerin verdoppelt. Den Schluss der Oper erlebt sie in dieser Inszenierung nur als Vision, sie wird zuvor von Pizarro ermordet. Dafür zeigen wir während der Ouvertüre als Rückblick einen kurzen Moment des Glücks zwischen Leonore und Florestan.

STANDARD: In welcher Zeit siedeln Sie die Geschichte in Ihrer Inszenierung an?

Niermeyer: In der Gegenwart. "Fidelio" ist ja heute viel aktueller als vor zehn, fünfzehn Jahren. Damals schien das Thema der Gefährdung von Meinungs- und Pressefreiheit in Europa passé zu sein, das gehörte vielleicht zu mittelamerikanischen Diktaturen. Jetzt haben wir diese Situation wieder vor unserer Haustür, in Ungarn, in der Türkei oder in Russland. Dort werden massenhaft Menschen eingesperrt, die etwas gegen die Regierung gesagt haben.

STANDARD: Sie hatten schon zweimal die Gelegenheit, am Uraufführungsort von "Fidelio", dem Theater an der Wien, zu arbeiten. Sind Sie dort von Beethovens Geist in irgendeiner Weise behelligt worden?

Niermeyer: Intendant Roland Geyer hat mir vor drei Jahren Beethovens Wege und die Zimmer gezeigt, in denen er wohnte und arbeitete. Als Bonnerin bin ich natürlich sowieso von Beethoven geprägt, ich war unzählige Mal in seinem Geburtshaus, bin mit seinen Symphonien groß geworden. Wucht und Kraft seiner Musik sind enorm, die überrennt einen fast, die sprengt Ketten! (Stefan Ender, 30.1.2020)