"Always united".

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Nur wenig deutete am Mittwoch im Europäischen Parlament in Brüssel tagsüber darauf hin, dass der Gemeinschaft in drei Tagen ein historischer Einschnitt bevorsteht. In der Nacht von Freitag auf Samstag wird zum ersten Mal ein Land aus der EU austreten, wird Großbritannien zum Drittstaat, nach 47 Jahren der Mitgliedschaft. Aber im Parlamentsgebäude der EU-Hauptstadt herrschte "business as usual".

Nur da und dort sah man Leute mit blau-rot-weißen Schals, in den Farben der EU und des Vereinigten Königreichs, mit der Aufschrift: "Always united" – vereint trotz Trennung, sollte das wohl signalisieren. In den Gängen und Sälen wuselten hunderte und tausende Abgeordnete samt Mitarbeitern hin und her wie immer bei Miniplenarsitzungen mit einer vollen Tagesordnung: Humanitäre Hilfe für Flüchtlingskinder auf griechischen Inseln, die Coronavirus-Krise, die EU-Transportstrategie – das alles sollte ab 15 Uhr zur Debatte stehen.

Diese wurde von einer Gedenkfeier für die Opfer des Holocaust zum Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz begonnen – mit einer mehr als bewegenden Rede von Liliana Segre, die das Grauen überlebt hat. Erst danach widmeten sich die Abgeordneten dem Brexit, samt Abstimmung über den Austrittsvertrag.

Übergangszeit bis Ende 2020

Seitens der britischen Regierung, des Parlaments in London, aber auch bei der EU-Kommission und den Regierungschefs sind alle Schritte gesetzt, um den formellen EU-Austritt zu ermöglichen. Ausständig war zuletzt nur die Ratifizierung durch das Plenum der 751 EU-Abgeordneten, 73 von ihnen Briten. Ab Samstag sind sie ihr Amt los, so wie der britische EU-Kommissar. Das Königreich wird dann ein Drittland sein, für das in einer Übergangszeit bis Ende 2020 weiter EU-Recht und alle Verpflichtungen gelten werden.

Bis dahin soll ein neues Abkommen über die künftigen Beziehungen abgeschlossen werden: Die sollen so eng wie möglich sein, erklärte Kommissionschefin Ursula von der Leyen und versprach den Briten: "Wir werden Euch immer lieben und nie weit entfernt sein."

Kurze Debatte, keine Feier

Das Präsidium des EU-Parlaments rund um dessen Präsidenten David Sassoli hatte sich sehr bemüht, die Umsetzung des Brexits möglichst kühl zu inszenieren: keine große Abschiedsfeier, kein Pomp. Alles geschäftsmäßig.

"Ich hasse die Europäische Union"

Das bedeutete freilich auch für die "Spalter", jene EU-skeptischen Kräfte im Parlament, die den Austritt der Briten vorangetrieben hatten, allen voran Nigel Farage von der Brexit-Partei, dass sie nur einfache Redezeit bekamen. Er nütze sie im Plenum, um es den Europäer noch einmal so richtig reinzusagen: "Wir lieben Europa, aber ich hasse die Europäische Union."

Nigel Farage stellte in seiner Abschiedrede klar: die Briten gehen und kommen niemals wieder. Er liebe Europa, aber er hasse die EU. Diese sei nicht nur undemokratisch, sondern antidemokratisch. Nachdem Farage und seine Mitstreiter zum Abschied mit Union Jacks schwenkten, wurde ihm das Mikrophon abgedreht.
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Besonders emotional wurde der Abschied der Briten in der Fraktion der Sozialdemokraten begangen. Sie hielten schon zu Mittag mit ihren zehn Labour-Abgeordneten eine öffentliche Sitzung ab, die zu einer Feierstunde für das gemeinsame Europa wurde. In einem Film wurde daran erinnert, wie sehr sich die EU seit dem Britenbeitritt 1973 verändert hat: wie das Parlament Zug um Zug mehr Mitentscheidungsrechte bekam; wie Sozial- und Umweltpolitik Bedeutung zukam; dass es die EU ist, die den Rechtsstaat, die Grundrechte, eine "Politik für die Menschen" über die Grenzen hinweg sichergestellt habe.

Die Grüne Abgeordnete Molly Scott Cato erklärte unter Tränen, dass sie auf eine Rückkehr hoffe.
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Standing Ovations für Briten

An all das erinnerte der langjährige britische Abgeordnete Richard Corbett in der Fraktion, später im Plenum. Der Brexit sei kein Abschied für immer, man werde sich wiedersehen, das Königreich werde in die EU zurückkehren, zeigte er sich überzeugt. Je länger die Debatte dauerte, desto mehr Wehmut kam bei den Redebeiträgen auf. Am Ende standen viele Briten auf, hielten ihre letzten Reden als EU-Bürger. Viele zollten der EU Respekt, bekannten, dass sie für enge Beziehungen weiterkämpfen werden, zeigten sich stolz, dem gemeinsamen Europa gedient zu haben. Immer wieder gab es für britische Redner Standing Ovations. Und es flossen die Tränen.

Die Abstimmung über den Austrittsvertrag war dann eine klare Sache: 621 Mandatare stimmten dafür, 49 dagegen, bei 13 Enthaltungen. Der EU-Rat wird das am Donnerstag besiegeln. (Thomas Mayer, 29.1.2020)

Nach der Abstimmung sangen die Abgeordneten das Abschiedslied "Auld Lang Syne".
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