Im Gastkommentar rufen Bini Guttmann von der Europäischen Union Jüdischer Studierender und Mischa Ushakov von der Jüdischen Studierendenunion Deutschland auf, das "ohrenbetäubende Schweigen" bezüglich der Lage der Uiguren zu brechen.

Am vergangenen Montag, dem Internationalen Holocaust-Gedenktag, hat die Welt den 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz begangen. Tausende Politiker, prominente und ganz normale Menschen forderten "Nie wieder!". Und zu Recht! Das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte darf niemals vergessen werden, darf sich niemals wiederholen.

Nur "Nie wieder!" zu fordern ist allerdings nicht genug. Für uns – als junge Juden – ist "Nie wieder!" mehr als bloß eine leere Phrase auf Gedenkveranstaltungen. "Nie wieder!" ist der Grund, warum wir jeden Tag überall in Europa Antisemitismus bekämpfen. "Nie wieder!" ist aber auch der Grund, warum wir Solidarität mit den Uiguren in China zeigen, die von kulturellem Genozid bedroht sind.

Der Autor und Holocaust-Überlebende Elie Wiesel sagte einmal: "Man muss Partei ergreifen. Neutralität hilft dem Unterdrücker, niemals dem Opfer, Stillschweigen bestärkt den Peiniger, niemals den Gepeinigten".

Ohrenbetäubendes Schweigen

Wenn es um die Lage der Uiguren geht, zeigt unsere Geschichte eines eindeutig: Wir können nicht länger schweigen, nicht länger zusehen. Wir müssen Partei ergreifen, unsere Stimme gegen kulturellen Genozid erheben. Deshalb sagen wir "Never Again – Right Now!".

"Folterungen mit Metallnägeln, herausgezogene Fingernägel, Elektroschocks, all das findet im ‚Black Room‘ statt. Die Bestrafung ist eine Konstante. Die Gefangenen sind gezwungen, Tabletten zu nehmen, und bekommen Injektionen verabreicht. Sie dienen der Vorbeugung von Krankheiten, sagen die Mitarbeiter, aber in Wirklichkeit dienen die Internierten als menschliche Versuchskaninchen für medizinische Experimente. Viele der Insassen leiden unter kognitiver Rückentwicklung. Einige der Männer werden steril. Frauen werden regelmäßig vergewaltigt." So beschreibt die Geflüchtete Sayragul Sauytbay die Situation in den chinesischen "Umerziehgungslagern" in der israelischen Zeitung Haaretz im Oktober.

Überwachungstechnologie ist allgegenwärtig in Xinjiang.
Foto: APA / AFP / Greg Baker
Mehr als eine Million Uiguren soll in Umerziehungslagern interniert sein.
Foto: APA / AFP / Greg Baker

Im Jahr 2020 sind ein bis drei Millionen uigurische Muslime hinter meterhohen Zäunen und Barrieren, durchgehend von den modernsten Überwachungssystemen beobachtet, in Konzentrationslagern – nicht Vernichtungslagern – in der chinesischen Provinz Xinjiang eingesperrt. Die chinesische Regierung verfolgt ihre muslimische Minderheit durch eine rücksichtslose, industrialisierte Kampagne der Gehirnwäsche, Folter und Entmenschlichung. Weil sie Muslime sind.

Die Maschinerie des chinesischen Staates, aktiv unterstützt von den Unternehmen, die in Xinjiang produzieren, und passiv von der Gleichgültigkeit der übrigen Welt, sorgt dafür, dass die Uiguren still und heimlich ihrer Menschenrechte beraubt werden. Während China einen kulturellen Völkermord begeht, ist das Schweigen der Welt ohrenbetäubend.

Als Juden, als Volk, das Genozid und Staatenlosigkeit so gut kennt wie niemand sonst, fragen wir uns oft, warum die Welt während unserer Verfolgung geschwiegen hat und immer noch schweigt. Als junge Aktivisten kämpfen wir tagtäglich gegen steigenden Antisemitismus auf unseren Universitäten, unseren Straßen und Parlamenten. Deshalb bedeutet "Nie wieder!" für uns zu handeln, es bedeutet auch, dann aufzustehen, wenn heute ein kultureller Genozid verübt wird. Es gibt keine Entschuldigung dafür zu schweigen, wenn Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt werden. Als junge Juden fordern wir die Welt dazu auf, ihr Versprechen von "Nie wieder!" zu erfüllen und zu handeln. Jetzt.

Europäische Solidarität

Als junge Europäer glauben wir an Vielfalt und Freiheit. Europa verpflichtet sich in seiner Verfassung der Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und ebenso der Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. China gefährdet genau diese Werte. In Xinjiang, im Rest des Landes und als aufstrebende Supermacht wohl bald auf der ganzen Welt. Europa muss aus seiner eigenen Geschichte lernen und in Solidarität mit jenen stehen, deren Menschenwürde gefährdet ist, anstatt mit jenen, die unsere Wirtschaft ankurbeln – solange wir das noch können.

Europas Entscheidungsträger und Unternehmen müssen endlich handeln, Menschen über Profite stellen, für Menschlichkeit und Menschenwürde einstehen – und Partei ergreifen. (Bini Guttmann, Mischa Ushakov, 30.1.2020)