Menschen, die unter Essstörungen leiden, nutzen Sport dazu, bedrückende Stimmungslagen und negative essstörungsbezogene Gedanken zu regulieren.

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Eines ist sicher: Körperliche Aktivität fördert die Gesundheit. Doch auch hier gilt, dass die Dosis das Gift macht. Wird Sport exzessiv und zwanghaft betrieben und im Extremfall zur Sportsucht, kann dies krank machen. Besonders ausgeprägt ist dieses Verhalten unter Menschen, die auch an Essstörungen leiden.

Forscher vom Institut für Sport und Sportwissenschaft des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) und der Uni Freiburg konnten nun erstmals die psychologischen Mechanismen aufdecken, die diesem pathologischen Sportverhalten zugrunde liegen. Mit der Methode des sogenannten ambulanten Assessments erfassten die Wissenschafter das Erleben und Verhalten von Betroffenen im Alltag.

"Der Kerngedanke ist, dass wir die Spezies Mensch in ihrem natürlichen Lebensumfeld untersuchen müssen, um menschliches Verhalten verstehen zu können", sagt Studienleiter Ulrich Ebner-Priemer vom KIT. Die Forscher setzten in ihrer Untersuchung auf sogenannte aktivitäts-getriggerte elektronische Tagebücher via Smartphone. "Mit diesen elektronischen Tagebüchern konnten wir das dynamische Wechselspiel von körperlicher Aktivität und psychologischen Variablen im Alltag untersuchen", erläutert Markus Reichert, Erstautor der Studie. "Dank dieser Technologie war es möglich, subjektive Selbstberichte bei auffälligen Bewegungsepisoden gezielt anzufordern und so eine hohe statistische Varianz der Daten zu generieren", ergänzt er.

Immer mehr Sport treiben

Zusätzlich wurde die körperliche Aktivität von 29 Patientinnen mit Essstörungen und 35 gesunden Kontrollprobandinnen über einen Bewegungssensor gemessen. Es zeigte sich, dass bei Patientinnen mit Essstörungen der exzessiven sportlichen Tätigkeit ein Stimmungsabfall vorausging. Dieser Effekt zeigte sich bei den gesunden Kontrollprobandinnen nicht, vielmehr fühlten sie sich vor dem Sport besonders energiegeladen.

Nach dem Sport waren die Patientinnen mit Essstörungen im Vergleich zu den gesunden Probandinnen und relativ zu ihrer durchschnittlichen Stimmung besser gelaunt, fühlten sich entspannter, verspürten weniger Druck, schlank sein zu müssen. Kurzum, sie waren mit ihrem Körper zufriedener. Dieser Effekt hielt aber nur für eine begrenzte Zeit an, je nach Probandin zwischen einer und drei Stunden. Patientinnen mit Essstörungen nutzen demnach den Sport dazu, um bedrückende Stimmungslagen und negative essstörungsbezogene Gedanken zu regulieren, so die Interpretation der Forscher. "Um mit schwierigen emotionalen Zuständen und negativem Körpererleben umzugehen, treiben sie Sport, vermutlich auch mangels fehlender alternativer Strategien in solchen Momenten", sagt Markus Reichert.

Die Studienautoren betonen, dass dieses Verhalten in einen Teufelskreis münden kann, in dem immer mehr Sport getrieben werden muss, um sich gut zu fühlen. Die Wissenschafter wollen aus diesen Ergebnissen Therapieempfehlungen ableiten. So könnte Sport in der Therapie gezielt und dosiert eingesetzt werden, um die Stimmung und das Körpererleben essgestörter Menschen positiv zu beeinflussen. Von zentraler Bedeutung sei jedoch, den Patientinnen und Patienten alternative Handlungsstrategien zu vermitteln, um ungesundes, übermäßiges Sporttreiben zu verhindern. (red, 3.2.2020)