Brexit-Stratege Dominic Cummings (Benedict Cumberbatch, Mi.) mit Boris Johnson (Richard Goulding, li.) und Michael Gove (Oliver Maltman).


Foto: Joss Barratt/Channel 4/House Productions

Auf der Suche nach Ideen zieht sich Dominic Cummings immer wieder ins Abstellkammerl zurück. Die von ihm geleitete "Leave"-Kampagne für einen Ausstieg Großbritanniens aus der EU hat bereits ordentlich Fahrt aufgenommen. Was es noch braucht, ist ein Feinschliff für den Kampagnenslogan. Fündig wird der Spindoktor abends im Bett neben seiner schwangeren Frau bei der Lektüre eines Ratgebers für werdende Väter. In Passagen, in denen es um Eifersucht, um die Angst vor Kontrollverlust geht, findet er jene drei Worte, mit denen sich die Emotionen potenzieller EU-Gegner perfekt auf den Punkt bringen lassen: "Take back control."

Wie das EU-Mitgliedschaftsreferendum am 23. Juni 2016 schließlich ausgegangen ist, ist bekannt. In der Nacht auf Samstag soll Großbritannien nach vielen Verzögerungen tatsächlich aus der Europäische Union austreten. Doch wie konnte es dazu kommen?

Erhellende Hinweise liefert der TV-Spielfilm Brexit: Chronik eines Abschieds, im Original Brexit: The Uncivil War, der heute um 20.15 Uhr sowohl im Sony Channel als auch auf Puls 24 zu sehen ist. Toby Haynes (Sherlock, Doctor Who) inszenierte die Vorgänge rund um das Brexit-Referendum als Tragikomödie mit Tech-Thriller-Touch. Das Drehbuch dafür lieferte der 37-jährige, für sein Gespür für politische Themen gerühmte Dramatiker James Graham. Seine gewitzte Mischung aus Fakten und Fiktionen fokussiert mit Dominic Cummings auf einen der weniger bekannten, aber maßgeblichen Drahtzieher des EU-Austritts.

Ein Nerd wie Sherlock

Wie schon in Sherlock verkörpert Hauptdarsteller Benedict Cumberbatch auch den Polit-Strategen Cummings nuancenreich als Nerd. Allerdings als linkisch-ruppiges Exemplar, dessen großes Ego unbeschwert von Skrupeln ist. Als Triebfeder fungiert bei ihm die Sehnsucht, herkömmliche Weisheiten auf den Kopf zu stellen. Oder wie es Cummings gegenüber altgedienten euroskeptischen Tories ausdrückt, die für ihn ebenfalls zum verabscheuten politischen Establishment zählen: "Wir müssen das politische System hacken, wir müssen bei der Hintertür rein."

Trailer zu "Brexit: Chronik eines Abschieds" / "Brexit: The Uncivil War".
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Was das konkret heißt, bildet wesentliche Stationen des Films. Cummings hört sich in Pubs um, saugt wie ein Schwamm Ängste und Ressentiments auf, die sich für seine Mission instrumentalisieren lassen. Er lässt Fantasiezahlen, wie jene 350 Millionen Pfund, die nach einem Brexit angeblich ins nationale Gesundheitssystem fließen sollen, auf die berühmten roten Busse plakatieren. Und er setzt vor allem auf eine maßgeschneiderte digitale Kampagne, für die er einen bislang links liegen gelassenen Pool an Wählern anzapft. Cummings schließt dafür einen Deal mit dem später in die Schlagzeilen gekommenen Datenanalyse-Unternehmen AggregateIQ, das im EU-Referendum der Filmerzählung nach kaum mehr als einen Versuchsballon sieht.

Als Hauptgegner von Cummings tritt Craig Oliver (Rory Kinnear) auf. Der einstige BBC-Journalist und Pressechef des damaligen Premiers David Cameron war als Chefstratege für die "Remain"-Kampagne verantwortlich und hat als Berater auch an dem zuerst von Channel 4 ausgestrahlten Spielfilm mitgearbeitet. In seiner Filmversion wirkt Oliver immer integer, meist gehetzt und zunehmend in der Defensive.

Vernachlässigte Ängste

In einer ernüchternden Schlüsselszene von Brexit: Chronik eines Abschieds beobachtet er hinter Glas eine bilderbuchartige Auswahl an britischen Durchschnittsbürgern, die über die Vorzüge und Nachteile der EU diskutiert. Als die Stimmung, erfasst vom Brexit-Virus, immer hitziger wird, hält es Oliver nicht mehr im Verborgenen aus und versucht den Befürchtungen Fakten entgegenzuhalten. Dabei wird für ihn zur Gewissheit, dass hinter den Ressentiments sehr reale Ängste stehen, die sich nicht mehr einfangen lassen, weil sie von seinesgleichen zu lange vernachlässigt wurden.

In "Brexit: Chronik eines Abschieds" als opportunistischer Clown zu sehen: Richard Goulding als Boris Johnson.
Foto: Joss Barratt/Channel 4/House Productions

Andere Protagonisten des Referendums treten gegenüber den Gegenspielern Cummings und Oliver in der Filmerzählung klar in den Hintergrund. Londons damaliger Bürgermeister, der heutige Premier Boris Johnson, wird als opportunistischer Clown gezeigt. Auch Nigel Farage, der von Cummings auf Distanz gehaltene und gleichzeitig für die Drecksarbeit instrumentalisierte Chef der Brexit-Partei, kommt nur als amüsante Karikatur vor. Der Vorwurf etwa des Guardian, dass hier Hauptverantwortliche einer toxischen politischen Kultur verharmlost würden, ließ denn nicht lange auf sich warten.

Dass der von viel trockenem britischem Humor durchzogene Film zu solch einer Darstellungsstrategie greift, mag aber auch eine Art Rache an den fragwürdigen Protagonisten einer politischen Kultur sein, in der Algorithmen und Scharlatane hoch im Kurs sind. Daran, dass dies für Demokratien nicht viel Gutes verheißt, lässt der Film am Ende ebenso wenig Zweifel wie daran, dass die Briten wie wir alle nicht nur viel Humor brauchen werden, um den Brexit und seine Folgen zu verdauen. (31.1.2020, Karl Gedlicka)