Unsympathler, heißt es, seien in aller Regel keine zugkräftigen Filmheroen. Als Uncut Gems in den US-Kinos an der 20-Millionen-Dollar-Marke kratzte, gerieten deswegen einige Kommentatoren ins Staunen. Wie kommt es, dass der Independent-Film von Josh und Benny Safdie, der in atemlosem Tempo von einem New Yorker Juwelenhändler und notorischen Wettspieler erzählt, so erfolgreich ist? Hat man es bei diesem Howard Ratner doch mit einem ausgesprochenen selbstsüchtigen, ja jämmerlichen Charakter zu tun: Nichts gelingt ihm, ständig flüchtet er in Ausreden, kippt dabei von einem Erregungszustand übergangslos in den nächsten. Die Kategorie Mensch, die ihr Elend nur vergrößert.

Netflix South Africa

Die (zu) einfache Antwort darauf lautet: Weil Uncut Gems, der ab heute unter dem Titel Der schwarze Diamant auf Netflix zu sehen ist, ein großartiger Film ist. Tatsächlich gebührt das Verdienst jedoch wohl eher A24, der Produktionsfirma, die gerade anspruchsvolles Autorenkino so gewieft zu vermarkten versteht, dass das Publikum danach giert. Und zum anderen, noch viel wichtigeren Teil: Adam Sandler, der sich in der Rolle dieses Getriebenen weiter denn je von seinem Image als Komiker einer derb-einfältigen Sorte entfernt. Auch wenn in der Verzweiflung, dem Leben ein einziges Mal einen Erfolg abzuringen, in dieser Rolle etwas von den anderen Durchschnittstypen und ewigen Jugendlichen überlebt.

Schon mit Mitte zwanzig haben es die Safdies mit Low-Budget-Arbeiten nach Cannes geschafft, mit Uncut Gems, ihrer bis dato größten Produktion, setzen sie nun ästhetisch den Weg ihres Brüderdramas Good Time (mit Robert Pattinson) fort. Erneut kommt dem Ton ein wichtiger Part zu, der fieberhaft-psychedelischen Musik von Daniel Lopatin (aka Oneohtrix Point Never), die das ohnehin große Stimmengewirr in dem Geschäft im Diamantenviertel bis zur Soundüberladung anschwellen lässt, damit aber den überreizten Zustand der Hauptfigur treffend unterstreicht. Darius Khondjis Kamera ist einstweilen wie beim Vorbild John Cassavetes auf die sich immer höher stapelnden Gefühle ausgerichtet. Kurzum, es herrschen Hektik und Nervosität, Getriebe und Geschrei, ohne Unterlass.

Kapitalistische Parabel

In all dem Gewühl versucht Ratner sein Leben in den Griff zu bekommen. Er hat einen Rohdiamanten aus Afrika ergattert, den er nun mit Gewinn versteigern will. Das Objekt hat aber auch eine symbolische Komponente, weil es die spielerische Natur Ratners auf den Punkt bringt. Der Juwelier setzt ständig alles auf eine Karte, wodurch er sich nur immer tiefer in Schulden verstrickt. Gleichzeitig treibt das den Einsatz jedes Mal um ein Stück in die Höhe. Wenn man will, kann man darin auch eine kapitalistische Parabel sehen: Ratner schließt am liebsten mit Fremdkapital seine Basketballwetten ab – Wetten, die einem ganzen Spielverlauf gelten.

Jeder Film der Safdies bezieht seinen besonderen Reiz durch die Nähe zur Stadt und den Milieus, in denen er angesiedelt ist – oft casten die Brüder dabei auch reale Personen. Die Nähe reicht bis in die Visagen der Gangster hinein, die Ratner bis in Theateraufführungen mit seiner Familie verfolgen. Die Szenen, in denen sich deren Angewidertsein angesichts Ratners Vertröstungen bis in körperliche Affekthandlungen steigert – einmal hängen sie aus dem Fenster –, beschreiben diesen Schlemihl gut; genauso jene, in der ihm seine Frau (Idina Menzel) nach einem Versöhnungsversuch erwidert, dass sie sein blödes Gesicht nicht mehr sehen kann. Das jüdische New York, aus dem die Safdies selbst stammen, bildet nicht nur in diesem Moment den kulturellen Hintergrund des Films – kurz davor liest Ratner die zehn Plagen aus der Haggada vor.

Intensive Frequenz

Die Frage von Uncut Gems ist nicht so sehr, ob es Ratner irgendwann gelingt, sein Pechvogeldasein zu überwinden. Der Film setzt den Zuschauer auf einer derart intensiven Frequenz den bis zur letzten Sekunde offenen Risikomanövern seines Protagonisten aus, dass man irgendwann unwillkürlich auf seiner Seite landet. Er ist auch nur ein Mann, der sein Glück versucht, in unsicheren Zeiten zu bestehen. Er ist vieles, aber sicher kein Unsympathler. (Dominik Kamalzadeh, 31.1.2020)