Wenn es am Freitag Nacht wird über London, geht ein wichtiges EU-Kapitel zu Ende.
Foto: AFP / Tolga Akmen

Wen das am Freitag um 23 Uhr britischer Ortszeit bevorstehende Ereignis in Feierlaune versetzt, der oder die hat diverse Möglichkeiten, dem Jubel Ausdruck zu verleihen: Anhänger der konservativen Regierungspartei können zum stolzen Preis von 15 Pfund (17,82 Euro) einen blauen Kaffeebecher mit dem Slogan "I got Brexit done!" kaufen und ihn zukünftig mit einem grellen Geschirrtuch (zwölf Pfund) nach dem Abwasch trocken wischen: Es zeigt Premierminister Boris Johnson in der Pose von Britannia, der Verteidigerin der britischen Freiheit.

Sangesfreudige hingegen sollten an diesem Abend auf den Platz vor dem britischen Parlament ziehen. Dort werden Nationalpopulist Nigel Farage und seine engsten Weggefährten der Brexit Party nicht nur Reden schwingen, sondern auch "patriotische" Lieder singen, Rule Britannia beispielsweise.

Auf der anderen Seite des politischen Spektrums gibt es Leute, die sich über eine neue 50-Pence-Münze erregen: Neben dem Datum 31. Jänner 2020 prangt darauf das edle Motto "peace, prosperity and friendship with all nations". Beschworen werden also Frieden, Wohlstand und internationale Freundschaft – eigentlich keine sonderlich anstößigen Wünsche. Doch Labour-Lord Andrew Adonis hat auf Twitter angekündigt, er werde die Annahme des – natürlich gültigen – Zahlungsmittels verweigern, weil es den Brexit bejuble.

Längst abgehakt

Wenn nicht alles täuscht, befinden sich Jubler und trotzige Verweigerer in einer winzigen Minderheit. Die große Mehrheit hat die wichtigste Umwälzung britischer Innen- und Außenpolitik seit den 1970er-Jahren weitgehend längst abgehakt. "Schauen wir einmal", scheint die vorherrschende Meinung zu sein.

Die Lethargie speist sich gewiss aus der Tatsache, dass die Welt aus britischer Sicht am 1. Februar kaum anders aussehen wird. Denn in der sogenannten Übergangsphase bis zum Jahresende, die London und Brüssel vereinbart haben, bleiben sämtliche EU-Regularien wie bisher in Kraft – auch müssen die Briten weiterhin brav in die Gemeinschaftskasse einzahlen. Dass Johnson und seine Minister nicht mehr an EU-Gipfeln teilnehmen, mögen die Vertreter der 27 Partner ebenso als Segen empfinden wie Europaparlamentarier die Abwesenheit des plärrenden Nebelhorns Farage.

In der Straßburger Versammlung wurde am Mittwoch Auld Lang Syne gesungen und heftig getrauert – ein starker Kontrast zur weitgehenden Unaufgeregtheit auf der Insel. Vielleicht entspricht dennoch beides der Realität?

Die Briten sind auch heute noch ein Seefahrervolk. Auf See muss man mit allem Möglichen rechnen, vor allem mit Unerwartetem. Mut zu Veränderungen und zum Risiko gehört ebenso dazu wie dichter Nebel. In diesem stochert herum, wer wissen will, wie es nach der angeblichen Rückgewinnung staatlicher Souveränität weitergehen soll. Ob Johnson selbst es weiß, ist höchst fraglich. Hingegen ist aus Sicht des erdenschweren Kontinents sonnenklar: Die Verweigerung der Atommacht Großbritannien gegenüber dem europäischen Einigungsprojekt bleibt ein schwerer Rückschlag, ja eine Katastrophe. Wenn sich eines der größten Mitglieder – weltweit sechstgrößte Volkswirtschaft, ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats, nicht zuletzt auch wichtiger Nettozahler – zum Austritt entschließt, stellt dies der Organisation in Brüssel kein gutes Zeugnis aus.

Lehren aus dem Brexit ziehen

So besonders die Situation Großbritanniens aus historischen, geografischen und psychologischen Gründen auch sein mag: Einige Lehren lassen sich aus dem Brexit auch für andere Länder ziehen. Der politische Mainstream auf der Insel duldete viel zu lang, dass Europafreunde als Europhile gekennzeichnet und damit sprachlich in die Nähe von Pädophilen gerückt wurden. Umgekehrt bezeichneten sich die nationalistischen Ultras als Euroskeptiker, was die Medien kritiklos nachplapperten. Skepsis im Sinn der Aufklärung – wer wollte dagegen etwas haben? In Wirklichkeit wurden englischer Besonderheitswahn und die Ablehnung wohlverstandener Zusammenarbeit gepredigt sowie über die Arbeit der Brüsseler Institutionen glatte Lügen verbreitet, nicht zuletzt von einem Ex-Journalisten namens Boris Johnson.

Der einstige Brüssel-Korrespondent hat nun seinen Beamten die Benutzung des Begriffs Brexit verboten. An diesem Tag wendet er sich per Facebook an die Nation, wahrscheinlich wird er wieder die Aussöhnung predigen. Die schönen Worte dürften wenig helfen, schließlich hat sich die Spaltung des Landes, die sich im Referendumsergebnis von 51,9 zu 48,1 Prozent widerspiegelte, seitdem verhärtet. Die Briten positionieren sich derzeit eher für und gegen den Brexit als rechts und links im politischen Spektrum.

Vernünftiges Handeln gefragt

Die Bedürfnisse der Wirtschaft, der gesellschaftliche Konsens, nicht zuletzt die staatliche Geschlossenheit unter Einschluss der EU-freundlichen Schotten und Nordiren sprächen dringend dafür, das Königreich auch weiter eng an den größten Binnenmarkt der Welt anzulehnen. Ob der mit satter Mehrheit und großer Machtfülle ausgestattete Johnson sein Land und die EU-Partner überrascht und vernünftig handelt? Nicht ganz auszuschließen.

Alles Gerede von "Auf Wiedersehen!" hingegen ist Augenauswischerei. Sollten die Briten je wieder einer europäischen Gemeinschaft beitreten, wäre dies eine deutlich andere Organisation als die EU in ihrer jetzigen Gestalt. Ob man das für schlimm halten soll? (Sebastian Borger, 31.1.2020)