Am Donnerstagabend feierte "Am Wiesnrand" in München Uraufführung in der Regie von Christina Tscharyiski: eine Fetzengaudi, die auch wehtut.

Foto: Arno Declair

Die Bühne, ein riesiger weicher Hügel, der sich bald als imposanter und im Stil von Sargnagels Zeichnungen behaarter Bierbauch entpuppt.

Arno Declair

Dass "die Wiesn" ein guilty pleasure von Stefanie Sargnagel sein könnte, lag nahe, weisen die Bücher der österreichischen Autorin und Cartoonistin bisher doch eine sachte Pro-Suff-Tendenz auf. Das von Christian Stückl geleitete Volkstheater München hätte also gar keine bessere Schriftstellerin für ein Stück über das Oktoberfest finden können. Am Donnerstagabend feierte "Am Wiesnrand" ebenda Uraufführung in der Regie von Christina Tscharyiski: eine Fetzengaudi, die auch wehtut.

Mit entschiedener Lust am Grauen – eine genuin österreichische Dichterposition – näherte sich Sargnagel dem Rausch und seinen Versprechungen in aufrichtiger Zugewandtheit. Den Themen "Bier, Gaudi, Tracht und Flirts" war sie auf der Spur. Man muss aber auch sagen: Rassismus, Homophobie und Sexismus. Punktuell weist diese Eigenrecherche intensive Selbstversuchsanteile auf.

Behaarter Bierbauch

Sargnagels Ich-Erzählung wird von fünf Flöhen zu Gehör gebracht. Auf einem die Bühne füllenden weichen Hügel, der sich bald als imposanter und im Stil von Sargnagels Zeichnungen behaarter Bierbauch entpuppt (mit in Sprungweite befindlichem Brusthügel, Bühne: Sarah Sassen), tänzeln, krabbeln und springen die Flöhe in ihren Wamskostümen (Svenja Gassen) munter vor einer idyllischen Watzmann-Kulisse herum. Den deftigen Soundtrack dazu liefert die Wiener Band Euroteuro, deren Sängerin Katharina Seyser-Trenk als Alpen-Peaches das Publikum animiert.

Die Flöhe, Sargnagels Protokollanten, künden von "lavendelfarbenen Dirndlkleidern", "Hirschstickereien im Genitalbereich", "herzerwärmenden Vergewaltigungshymnen" und anderen volkstümlichen Bräuchen. Zwischendurch der Satz: "Die Nieren laufen auf Hochtouren."

Steigerungsdramaturgie

Der Text ist dort am besten, wo er über die Elendsabbildung der geschlauchten Festopfer hinausführt und entlang einer Steigerungsdramaturgie ins Phantasmagorische weiterdenkt. Ein Bild hat es besonders in sich: Die Ich-Erzählerin, an drei Tagen Oktoberfest selbst damit beschäftigt, eine zünftige Zeit zu erleben und einen Traumprinzen zu finden, landet mit einem unbekannten, bewusstlos Betrunkenem in jenem Sanitäterschubkarren, in welchen die Alkoholleichen eingesammelt und dann in eine Grube gekippt und zur Desinfektion mit Kalk bestreut werden. Hinter die trügerische Harmonie der Rauschseligkeit schaltet Sargnagel das zeitgeschichtliche Vexierbild der Massenvernichtung.

Regisseurin Tscharyiski, seit ihrer vorzüglichen Grazer Inszenierung von Ferdinand Schmalz' Bierzeltdrama "schlammland gewalt" in das Themenfeld letale Volksfeste eingearbeitet, hat den Monolog mit dem Flohzirkus-Kniff mit Gewinn aufgespannt. Gelegentlich wirkt "Am Wiesnrand" wie die zünftige Version einer Jelinek-Inszenierung von Stefan Bachmann. Erst auf der Bühne entwickelt der Text seine Form. Könnte sein, dass der Abend länger auf dem Spielplan bleibt. (Margarete Affenzeller, 31.1.2020)