"Willkommen auf der größten Baustelle der Welt!" Wenn Karl-Heinz List Besucher in den Berg begleitet, ist das ein bisschen so, als würde einem der 59-Jährige seinen Hobbykeller zeigen. Einen Keller gewaltigen Ausmaßes. Denn der Brenner-Basistunnel (BBT) setzt neue Maßstäbe. Ab 2028 soll die längste unterirdische Eisenbahnverbindung der Welt als zentrales Element der europäischen Nord-Süd-Verkehrsachse den Personen- und vor allem Güterverkehr über die Alpen erleichtern. Tirol erwartet sich vom Tunnelprojekt die langersehnte Lösung des Transitproblems. Denn 30 Prozent des transalpinen Güterverkehrs laufen über den Brenner.

List ist seit dem ersten Zufahrtsstollen, mit dessen Bau auf österreichischer Seite vor fast genau zehn Jahren begonnen wurde, mit dabei. Zuerst als Polier, heute als Bauaufseher. Der ehemalige Hüttenwirt aus dem Ötztal kann gut Schmähführen und kennt "seine Baustelle" wie kein anderer. Ohne ortskundigen Führer wäre man im unterirdischen Labyrinth verloren.

Aushubmaterial

Aktuell sind 118 von insgesamt 230 Tunnelkilometern in den Berg getrieben. Auch wenn der BBT selbst zwischen Innsbruck und Franzensfeste in Südtirol "nur" 55 Kilometer lang wird – inklusive der bestehenden Umfahrung Innsbruck sind es 64 Kilometer –, müssen neben den zwei Hauptröhren zahlreiche weitere Erkundungs-, Rettungs- und Zufahrtsstollen gebaut werden.

Dabei fällt eine enorme Menge an Aushubmaterial an. "Insgesamt 23,5 Millionen Kubikmeter Auswurf, ein Drittel davon wird für den Bau wiederverwendet", erklärt List bei der Einfahrt zum Zufahrtsstollen Ahrntal, unweit der Europabrücke. Hinter ihm wächst indes unablässig der gewaltige Schüttkegel am Ende des insgesamt 40 Kilometer langen Förderbandes, das hier aus dem Berg kommt.

Über den Zufahrtstunnel geht es steil bergab zu den Hauptröhren. Die Bauarbeiten sind an dieser Stelle schon weit fortgeschritten. Ein Trupp polnischer Arbeiter kleidet bereits die Tunnelwände mit Beton aus. Je weiter es in Richtung Innsbruck geht, umso fertiger sieht das Bauwerk aus. Rein optisch fehlen hier nur mehr die Schienen und Oberleitungen.

Seitenwechsel der Superlative

Etwa 220 Meter unter der Gemeinde Patsch befindet sich die sogenannte Brezel. An dieser Stelle kreuzen einander mehrere Tunnelröhren im Berg. Auf dem Plan erinnert das Gewirr der Stollen an die Form geflochtenen Laugengebäcks. Daher der Name. "Das mussten wir so bauen, weil für die Eisenbahn in Italien Linksverkehr gilt, während wir in Österreich Rechtsverkehr haben. Zudem trennen sich hier die Richtungsröhren, die nach Innsbruck führen und die der bestehenden Umfahrungsstrecke direkt ins Unterinntal", erklärt List das gewaltige Konstrukt. In den engen Tälern nördlich wie südlich des Brenners wäre nicht genug Platz, um die Gleiskörper kreuzen zu lassen, also haben die Ingenieure das Problem im Berg gelöst.

Die schiere Größe der Baustelle ist kaum zu fassen. Während die Tunnel südlich von Innsbruck praktisch fertig sind, fressen sich weiter Richtung Brenner noch dies- wie jenseits des Passes riesige Bohrmaschinen in bis zu 1720 Meter Tiefe durch den Fels. Eine davon heißt "Günther", benannt nach Tirols Landeshauptmann Günther Platter (ÖVP). "Das ist eine große Ehre, denn normalerweise tragen Bergbaumaschinen ausschließlich weibliche Namen", erklärt List. "Günther" wurde als Zeichen der Verbundenheit so getauft, weil Platter als treuer Fürsprecher des BBT gilt.

Bis zu 200 Meter lang sind diese Monstermaschinen. Und nirgends arbeiten sie so schnell wie hier. "Wir haben mit 61 Meter an nur einem Tag den neuen Weltrekord aufgestellt", sagt List stolz. Allerdings gab es auch Rückschläge: "Dreimal ist uns eine steckengeblieben." Bis zu zwei Monate dauert es, einen solchen Megabohrer wieder freizubekommen. Im Extremfall muss mittels Sprengvortrieb ein Parallelstollen gebaut werden, um an den festsitzenden Bohrkopf zu gelangen.

Im Frühjahr wird es auf österreichischer Seite zum Durchstich zweier Baulose kommen. Bis die Tunnelröhren zwischen den beiden Staaten verbunden sind, werden noch Jahre vergehen. Ist der rund neun Milliarden Euro teure BBT einmal fertig, so wird er die Fahrtzeiten enorm verkürzen. Dauert es auf der heutigen Bestandsstrecke gut 80 Minuten von Innsbruck nach Franzensfeste, so werden Personenzüge, die im BBT bis zu 240 km/h schnell fahren dürfen, nur mehr 25 Minuten dafür benötigen. Der Güterverkehr darf im Tunnel 120 km/h schnell fahren und wird frei gewordene Kapazitäten auf der Bestandsstrecke nutzen. (Steffen Arora, 1.2.2020)


Der Boden ist bläulich-grau meliert. Mit jedem Schritt sinkt man ein wenig ein. Ganz leise macht es unter den Schuhsholen quatsch. Dabei ist es eigentlich ein trockener Tag – bei Regen wird der lehmige Untergrund in dem Loch noch viel matschiger. "Dann kommt man gar nicht mehr raus", scherzt Margareta Neuhold.

Die Diplomingenieruin ist technische Referentin der Wiener Linien im Ingenieurbau und Großprojektemanagement, wie die Visitenkarte auf ihrem weißen Helm wissen lässt. Sie ist für die U-Bahn-Baustelle auf dem Wiener Matzleinsdorfer Platz zuständig. Zehn Meter geht es dort in die Erde hinunter. Und es wird noch viel tiefer: "Wir befinden uns jetzt in der ersten Bauebene", sagt sie. Zwei weitere werden heuer noch folgen – bis 30 Meter unter die Erde. Dann startet der Tunnelbau für die neue, verlängerte Trasse der U2: vom Matzleinsdorfer Platz über die Pilgram- und Neubaugasse zum Rathaus, wo sie wieder ihre gewohnte Stracke aufnimmt. Bis es so weit ist, muss noch einiges geschehen. Momentan sieht man von oben, neben den Gleisen der ÖBB stehend, ein großes rechteckiges Loch mitten im Boden.

An der Mauer, über die gleich neben der Großbaustelle die Züge rauschen, sind in regelmäßigen Abständen kleine Prismaspiegel angebracht. Eine von vielen Sicherheitsmaßnahmen. "Wir sichern uns mit Hosenträgern und Gürtel ab", sagt Neuhold. Regelmäßig wird kontrolliert, ob sich die Spiegel noch an derselben Stelle befinden. Schon eine Veränderung im Millimeterbereich wäre ein Problem: Das hieße nämlich, dass sich der Grund absenkt.

Am Rand der Baustelle hebt ein Kran einen an Stahlketten befestigten Container voller Erde aus der Tiefe und leert den Inhalt auf einen Lastwagen. Der Aushub von ganz unten nach ganz oben passiere "zitzerlweise", sagt Neuhold. Anders gehe es nicht.

Große Erdbewegungen

Über eine graue Bautreppe, die immer wieder verschoben wird, um die Arbeiten nicht zu behindern, geht es hinunter zur eigentlichen Baustelle. Ein Bagger flitzt über die Ebene und schaufelt neue Erde in den Container. "Der Boden hat eine gute Qualität. Er ist gut aufzuarbeiten", sagt Neuhold. "Wir haben hier ziemliche Erdbewegungen", sagt Neuhold. 60.000 Kubikmeter Erde werden insgesamt ausgehoben.

Im Loch selbst arbeitet derzeit nur etwas mehr als eine Handvoll Männer in gelben und orangen Warnwesten. Während des Aushubs braucht man nicht viel Personal. Wenn ab Februar wieder betoniert wird und Schalungsarbeiten durchgeführt werden, sollen hingegen vier Partien zu je 15 Personen pro Einheit im Schichtbetrieb rund um die Uhr im Einsatz sein.

Nach oben hin ist die Baustelle, das Loch, offen. An den Seiten prangt eine etwa zwei Meter breite Decke. Aus dieser ragen Stahlstäbe nach unten. Hier wird später die "Innenschale", eine weitere Wand, angedockt. Die Schlitzwände, die das Rechteck schon jetzt umgeben, wurden als Erstes gefertigt und bis 50 Meter unter die Erde eingelassen.

Alles Handarbeit

An der einen Seite der Mauer stemmen Arbeiter mit Presslufthammern in der Hand und Hörschutz über den Ohren an etwas, das wie ein Fenster aussieht. Das sind die Schlitzwände. Diese Einkerbungen sollen später eine Verbindung zu nächsten Ebene ermöglichen. "Das ist alles Handarbeit, damit es nicht rissig wird", sagt Neuhold. Während es zehn Meter weiter oben relativ leise ist, hallt unten der Lärm der Baugeräte.

Aus dem Boden ragen braune Metallrohre. "Brunnen", erklärt Neuhold. Sie sind zur Sicherheit der Baustelle angefertigt worden. Sie pumpen, wenn nötig, das Grundwasser nach oben und in den Kanal. Bis zu fünf Liter Wasser können pro Sekunde befördert werden. Am Ende der Bauzeit werden die Brunnen mit einem Deckel verschlossen.

Den freien Blick in den Himmel versperren vereinzelte Träger, in der Mitte in Form eines übergroßen X. Ist die Grube fertiggegraben, geht es erst richtig los. Der große Maulwurf, jene Maschine, die sich durch die Wiener Innenstadt bohren soll, wird dann in Einzelteilen vom Kran in das Loch gehoben. Ein paar Monate dauert es, bis das schwere Gerät unten zusammengebaut ist und seine Arbeit beginnt.

Noch sechs Jahre, bis 2026, wird das Buddeln und Baggern dauern. Dann, später als ursprünglich geplant, soll die U2-Verlängerung in Betrieb gehen. Das erste Teilstück der vollautomatischen U5, vom Karlsplatz in der Innenstadt bis zum Alten AKH im 9. Bezirk, soll zwei Jahre früher fertig werden. (Oona Kroisleitner)


Foto: Plankenauer

Mit einem roten Notfallrucksack samt Sauerstoffgerät auf dem Rücken und dem Auffindungspiepserl um den Hals geht’s im scheppernden Käfiglift das Empire State Building hinunter.

Gut, nicht wirklich das Empire State Building, aber es sind jene annähernd 400 Höhenmeter des Wolkenkratzers, die der Fahrstuhl in die Tiefe des Bergs rumpelt, ehe sich – unten angekommen – eine grell von Scheinwerfern ausgeleuchtete, schlammig-nasse mächtige Bergbaukathedrale öffnet.

Gestänge, Rohre, Unmengen von Leitungen an den Wänden, Schlamm und Geröll, die Wände stabilgespritzt mit Beton. Stählerne Wasserbecken sammeln das Bergwasser, 20 Meter hohe Eisengerüste ragen bis zum Plafond. Förderbänder transportieren zermalmtes Gestein in Container. Ein Tieflader wird aus einem überdimensionalen Fahrstuhl gerollt. Scheinbar lenkerlose Trucks fahren in die Tunnel ein, dazwischen wuseln Gelbhelmträger in Schutzanzügen herum. Eigentlich ein stimmiges Setting für einen James Bond-Dreh.

Es ist hohe Ingenieurskunst, profundes Geologenwissen und respekteinflößende Handwerkskunst der Mineure, wie beim Semmering-Basistunnel im Zusammenspiel alle Akteure aus dem rohen Felsen eine für den Bahnverkehr funktionierende Infrastruktur geschlagen und gebohrt wird.

Eine andere Welt

Ab 2027 sollen beide Röhren des 27,3 Kilometer langen Tunnels die historische Ghega-Bahn über den Semmering ersetzen. Die Fahrzeit von Wien nach Graz soll sich von 2:40 Stunden auf 1:50 verkürzen, Wien–Klagenfurt – wenn auch der Koralmtunnel finalisiert ist – von vier auf 2:40 Stunden. "Die Hälfte des Aushubs haben wir geschafft", sagt ÖBB-Projektkoordinator Gernot Nipitsch. Und es soll bei den 3,3 Milliarden Euro Baukosten bleiben. "Das ist fix", sagt Nipitsch, daran ändere auch die Verzögerung durch den Wassereinbruch nicht. Das liege im Kalkulationsrahmen.

Auch wenn oben jahrelang über die Sinnhaftigkeit und Finanzierbarkeit dieses Tunnelprojektes gestritten wurde: Hier herunten wirkt eine andere Welt, hier gelten die Gesetze der Natur. Und die will bezwungen werden. 24 Stunden am Tag in drei Schichten, Meter für Meter arbeitet sich die 125 Meter lange Tunnelvortriebsmaschine vor. Die Maschine musste im Tunnel zusammengebaut werden. Wo es mit der Maschine nicht geht, wird gesprengt. An vier Stellen wird der Berg von oben angebohrt.

Der Semmering gehört den "Möllis"

Der Tunnel gehört eigentlich den "Möllis", den Mölltalern. Der Großteil der Mineure, die ganz vorn am Berg, am Tunnelvortrieb arbeiten, kommt aus Kärnten, aus dem kärntnerischen Mölltal. "Das hat so seine Tradition", sagt der für die örtliche Bauaufsicht verantwortliche TU-Graz-Experte Robert Staudacher.

Bauern aus dem Mölltal haben früher beim Bau des Tauerntunnels angeheuert. Daraus sei eine richtige "Mölltaler Tunnelbauergeneration" entstanden, sagt Staudacher. Weil sie Kärntner sind, gibt es natürlich auch ein Tunnellied der "Möllis" auf Youtube.

In dem bisher schon etliche Kilometer gegrabenen Tunnel muss immer mit dem Ernstfall gerechnet werden, Notfallcontainer stehen parat, mit Sauerstoff, Verpflegung, medizinischem Equipment und dem Kartenspiel Schwarzer Peter. "Wenn etwas passiert und Mitarbeiter länger eingeschlossen sind, müssen sie sich ja auch ablenken können", sagt Nipitsch.

Was den Semmering im Vergleich zu anderen Tunnelprojekten so anspruchsvoll macht, sind die geologischen Unwägbarkeiten. Aber auch die Erdoberfläche birgt einige Komplikationen: die Besitzverhältnisse. "Denn", so erklärt Nipitsch, "bevor unten gegraben werden darf, muss natürlich oben beim Grundstückseigner nachgefragt werden. Ob die ÖBB sozusagen durchs Grundstück fahren dürfen."

Große Areale für das Semmeringprojekt gehören den Bundesforsten, Privaten, aber auch der Kirche. "Bei einem Grundstück musste sogar Kardinal Schönborn unterschreiben", schmunzelt Nipitsch.

Anders beim Brennerbasistunnel. Hier gelten auf italienischer Seite andere Bedingungen, hier reicht das Eigentumsrecht nur bis 30 Meter in die Tiefe. Darunter gehört Mutter Erde dem Staat Italien. In Österreich reicht der Privatgrund so weit hinunter, so weit es technisch möglich ist, zu graben.

Wenn der Semmeringbasistunnel fertiggestellt ist, ziehen die "Möllis", Österreichs gefragte Mineure, weiter zur nächsten Untertagebaustelle. Für gutes und schwer erarbeitetes Geld. Bis dahin hat die Tunnelbaulobby der österreichischen Politik sicher schon das nächste Großprojekt schmackhaft gemacht. (Walter Müller, 1.2.2020)